Erst jetzt bemerkte sie, dass in der ersten Reihe tatsächlich ein Stuhl frei geblieben war. Porils Stuhl. Sie drehte sich um und stellte fest, dass ihr alter Freund im hinteren Teil des Raumes saß. Er errötete und wich ihrem Blick aus.
»Vielen Dank, Mylord«, erwiderte sie. »Das war sehr freundlich von Euch, aber ich würde es vorziehen, weiterhin auf meinem alten Platz zu sitzen.«
Die Augen des Magiers wurden schmal. Einen Moment lang schien es, als würde er Einwände erheben, aber dann besann er sich offenkundig eines Besseren.
»Nun gut.« Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken und legte die Hand auf einen Stapel Papiere auf seinem Pult. »Heute werde ich eure Kenntnisse der Alchemie prüfen«, erklärte er der Klasse. »Ich werde euch eine Liste mit Fragen geben, die ihr beantwortet. Danach werdet ihr einige verschiedene Aufgaben bekommen. Nach der Mittagspause folgen dann die praktischen Prüfungen.«
Als er die Papierbögen verteilte, stieg in Sonea eine alte, beinahe vergessene Furcht auf. Die Prüfungen. Sie überflog die Fragen und seufzte vor Erleichterung. Trotz der Verachtung der Lehrer, trotz aller Versuche Regins, sie zu behindern, war es ihr gelungen, den Unterrichtsstoff zu lernen und zu behalten. Als sie ihre Feder hervornahm und zu schreiben begann, fühlte sie sich bereits besser.
Einige Stunden später verkündete der Gong das Ende der Prüfung, und die Erleichterung der Klasse war mit Händen zu greifen.
»Das ist alles«, sagte Elben. »Ihr dürft jetzt gehen.«
Die Novizen erhoben sich und verbeugten sich vor dem Lehrer. Als sie einer nach dem anderen den Raum verließen, fing Sonea mehrere Blicke von ihren Klassenkameraden auf. Bei dem Gedanken an den Grund dafür krampfte ihr Magen sich vor Angst zusammen.
»Warte, Sonea«, sagte Elben, als sie an seinem Pult vorbeikam. »Ich möchte gern kurz mit dir sprechen.«
Als der Raum sich geleert hatte, sagte er: »Nach der Mittagspause möchte ich, dass du den Platz einnimmst, den ich für dich reserviert habe.«
Sonea schluckte. Hatte Jerrik solche Dinge gemeint, als er davon sprach, dass die Lehrer sie in Zukunft bevorzugt behandeln würden? Sollte sie diesen Vorteil nutzen, wie der Direktor es ihr nahe gelegt hatte?
Aber was konnte sie gewinnen, indem sie in die erste Reihe umzog? Nur das Wissen, dass Poril ihretwegen in der Klasse noch mehr Ansehen eingebüßt hatte. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich ziehe es vor, am Fenster zu sitzen.«
Elben runzelte die Stirn. »Es wäre passender, wenn du jetzt ganz vorn in der Klasse säßest.«
Passender? Ärger loderte in ihr auf. Hier ging es nicht darum, ihr beim Lernen zu helfen, hier ging es darum, zu demonstrieren, dass man die Novizin des Hohen Lords bevorzugte. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass sie Akkarin von jeder noch so kleinen Vergünstigung, die ihr zuteil wurde, berichten würde. Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Sie würde so wenig wie möglich mit ihrem neuen Mentor sprechen.
Eins hatte sie in den vergangenen sechs Monaten gewiss gelernt: Die Rangordnung der Klasse durfte auf keinen Fall durcheinander gebracht werden. Wenn sie Porils Platz einnahm, würde das weit mehr bedeuten als nur einen Tausch mit ihm. Die Novizen mochten sie schon jetzt nicht; sie brauchte ihnen nicht noch zusätzliche Gründe dafür zu liefern. Sie sah Elben an, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, und aus ihrem Ärger wurde Trotz.
»Ich werde an meinem alten Platz sitzen bleiben«, erklärte sie ihm.
Elben spitzte missbilligend die Lippen, aber etwas in Soneas Blick ließ ihn zögern. Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Vorne kann man besser sehen und hören«, bemerkte er.
»Ich bin nicht taub, Lord Elben, und auch nicht kurzsichtig.«
Sein Kiefer verspannte sich. »Sonea.« Er trat näher an sie heran und sprach jetzt sehr leise. »Wenn du den Platz in der ersten Reihe ablehnst, könnte man dies als… Nachlässigkeit meinerseits werten…«
»Vielleicht sollte ich Akkarin erklären, dass Ihr mich nicht dort sitzen lassen wollt, wo ich zu sitzen wünsche.«
Seine Augen weiteten sich. »Wegen einer solchen Kleinigkeit würdest du ihn doch gewiss nicht behelligen…«
Sie lächelte. »Ich bezweifle, dass er sich überhaupt dafür interessiert, in welchem Teil des Raums ich sitze.«
Er musterte sie schweigend, dann nickte er. »Also gut. Du darfst sitzen, wo du willst. Geh jetzt.«
Als sie in den Flur hinaustrat, hämmerte ihr Herz. Was hatte sie getan? Novizen widersetzten sich niemals ihren Lehrern.
Dann wurde ihr klar, dass im Flur ungewöhnliche Stille herrschte. Sie stellte fest, dass Novizen aller Jahrgänge sie eindringlich musterten. Die Befriedigung über ihr Gespräch mit Lord Elben löste sich in Luft auf. Sonea schluckte und ging auf die Treppe zu.
»Das ist sie«, flüsterte eine Stimme zu ihrer Rechten.
»Gestern«, murmelte jemand. »…nicht die leiseste Vorwarnung.«
»…Hoher Lord…«
»…aber warum sie?«, höhnte jemand, eine Bemerkung, die offensichtlich dazu gedacht war, dass Sonea sie hörte. »Sie ist doch bloß ein Hüttenmädchen.«
»…nicht richtig.«
»…es hätte einer von uns…«
»…Beleidigung für die Häuser.«
Sie schnaubte leise. Wenn sie den wahren Grund gekannt hätten, warum er mich gewählt hat, dachte sie, dann wären sie nicht so…
»Macht Platz für den Schützling des Hohen Lords!«
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie die Stimme erkannte. Regin hatte ihr den Weg verstellt.
»Erhabene!«, rief er laut. »Dürfte ich einen winzigen, unendlich kleinen Gefallen von einer so bewunderten und einflussreichen Persönlichkeit erbitten?«
Sonea betrachtete ihn wachsam. »Was willst du, Regin?«
»Würdest du… natürlich nur, wenn es keine allzu große Beleidigung für deine hohe Position ist«, er lächelte klebrig süß, »würdest du heute Abend dann meine Schuhe flicken? Verstehst du, ich weiß, dass du überaus begabt für solch große und verdienstvolle Aufgaben bist, und, nun ja, wenn ich meine Schuhe schon reparieren lasse, sollte das durch den besten Schuhflicker in der Hüttengilde geschehen, meinst du nicht auch?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Etwas Besseres ist dir wohl nicht eingefallen, Regin?« Sie ging um ihn herum und weiter den Flur hinunter. Schritte verfolgten sie.
»Aber Sonea…, ich meine, aber, Erhabene. Es wäre mir eine solche Ehre…«
Seine Stimme brach abrupt ab. Stirnrunzelnd widerstand sie dem Drang, sich umzudrehen.
»Sie ist die Novizin des Hohen Lords«, murmelte jemand. »Bist du verrückt geworden? Lass sie in Ruhe.«
Als Sonea Kanos Stimme erkannte, schnappte sie überrascht nach Luft. Das also hatte Jerrik gemeint, als er gesagt hatte, Akkarin habe sehr zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen? Langsam setzte sie ihren Weg durch die Universität fort, trat durch die Eingangstüren und ging auf die Magierquartiere zu.
Dann blieb sie jäh stehen.
Wo wollte sie hin? In Rothens Wohnung? Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Schließlich gab ihr Hunger den Ausschlag. Sie würde in den Speisesaal gehen. Und nach den Prüfungen am Nachmittag? In die Bibliothek. Wenn sie dort blieb, bis die Bibliothek geschlossen wurde, brauchte sie erst am späten Abend in die Residenz des Hohen Lords zurückzukehren. Mit ein wenig Glück hatte Akkarin sich dann schon für die Nacht zurückgezogen, und sie konnte in ihr Zimmer gelangen, ohne ihm zu begegnen. Mit einem tiefen Atemzug wappnete sie sich gegen die unausweichlichen Blicke und das Getuschel und ging zurück in die Universität.
Lorlens Räume lagen im Erdgeschoss des Magierquartiers. Er verbrachte jedoch nur wenig Zeit dort, da er früh morgens aufstand und erst am späten Abend zurückkehrte. Inzwischen nahm er in seiner Wohnung kaum mehr wahr als das Bett und seinen Kleiderschrank.
Aber am vergangenen Tag hatte er vieles in seiner Wohnung neu entdeckt. Auf den Bücherregalen standen einige Zierstücke, von denen er ganz vergessen hatte, dass er sie besaß. Diese Erinnerungen an die Vergangenheit, an Angehörige und an frühere Leistungen erfüllten ihn mit Schmerz und Schuldgefühlen. Sie erinnerten ihn an Menschen, die er liebte und respektierte. Menschen, die er im Stich gelassen hatte.