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Aber trotz allem, was geschehen war, wollte er das noch immer nicht glauben.

21

Die Gräber der Weißen Tränen

Als Sonea die Universität hinter sich gelassen hatte, stellte sie sich vor, das gewaltige Gebäude würde hinter ihr zusammenschrumpfen. Der dunkle Bau, der vor ihr aufragte, wirkte mit jedem Schritt, den sie tat, bedrohlicher.

Die Residenz des Hohen Lords. Akkarins Haus.

Sie hatte ihre Abendmahlzeit so lange wie möglich in die Länge gezogen, und da sie sich nicht dazu überwinden konnte, die Universität zu verlassen, war sie in die Novizenbibliothek gegangen. Aber nun, da die Bibliothek geschlossen war und die Universität leer und verlassen dalag, blieb ihr nichts anderes übrig, als in ihr neues Zimmer zurückzukehren.

Als sie die Tür erreicht hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie nahm all ihren Mut zusammen und legte die Hand auf die Tür, die daraufhin aufschwang.

Der Raum dahinter wurde von einer einzelnen Lichtkugel erhellt. Akkarin saß, ein Buch in den langen, bleichen Fingern, in einem der luxuriösen Sessel. Er blickte auf, und Soneas Magen zog sich zusammen.

»Komm herein, Sonea.«

Sie zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Als sie die Schwelle überquert hatte, fiel die Tür mit einem leisen, aber entschiedenen Klicken hinter ihr zu.

»Hast du bei den Prüfungen heute gut abgeschnitten?«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber da sie ihrer Stimme nicht traute, beschloss sie, stattdessen zu nicken.

»Das freut mich. Hast du schon gegessen?«

Sie nickte abermals.

»Dann darfst du jetzt schlafen gehen, damit du morgen gut ausgeruht bist.«

Erleichtert verbeugte sie sich und eilte durch die Tür zu ihrer Linken. Sie schuf eine Lichtkugel und ging langsam die Wendeltreppe hinauf.

Im Schein des magischen Lichts erinnerte die Treppe sie an jene andere, die in den Kellerraum führte, in dem sie Akkarin bei seiner schwarzen Magie beobachtet hatte. Diese zweite Treppe musste sich auf der anderen Seite des Empfangsraums befinden, vermutete sie. Die Treppe auf dieser Seite führte nur nach oben.

Oben angelangt, kam sie in einen langen Flur. Hinter der ersten Tür lag ihr Schlafzimmer. Außer diesem Raum hatte sie bisher noch nichts von der Residenz des Hohen Lords gesehen.

Als sie den Türknauf drehte, hörte sie vom anderen Ende des Flurs Schritte, die kurz darauf innehielten. Dann drang ein leises Klicken an ihre Ohren.

Das ist also sein Schlafzimmer, überlegte Sonea. Nur etwa zwanzig Schritte den Gang hinunter. Die Tatsache, dass Akkarin ihr so nah war, beruhigte sie keineswegs, andererseits wäre es auch nicht viel besser gewesen, wenn er auf der anderen Seite der Residenz geschlafen hätte. Allein das Wissen, dass er sich im selben Gebäude aufhielt, machte ihr Angst.

Sonea zog die Tür leise hinter sich zu, dann sah sie sich in ihrem Zimmer um. Mondlicht schien durch zwei kleine Fenster und zeichnete bleiche Rechtecke auf den Fußboden. Der Raum wirkte beinahe freundlich in dem sanften Licht.

Er unterschied sich deutlich von ihrem schlichten Zimmer im Novizenquartier. Die Möbel hier waren aus einem dunklen, rötlichen Holz gefertigt und auf Hochglanz poliert. An einer Wand stand ein großer Schrank, daneben befanden sich ein Tisch und ein Stuhl, wo sie arbeiten konnte. Auf dem Bett zwischen den beiden Fenstern lagen ihre Habseligkeiten, die ein Diener aus dem Novizenquartier hergebracht hatte.

Nachdem sie ihre Kleider weggeräumt hatte, sah sie auf der Bettdecke einen kleinen Gegenstand liegen. Als sie ihn in die Hand nahm, erkannte sie einen grob geschnitzten Reber, den Dorrien kurz nach seiner Ankunft Rothen gegeben hatte. Es hatte Sonea fasziniert, dass eine derart unbeholfene Arbeit doch das ganze Wesen des Tieres widerzuspiegeln vermochte.

Dorrien. Seit seiner Abreise hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Es schienen Wochen seither vergangen zu sein, dabei waren es nur zwei Tage…

Was würde er denken, wenn er erfuhr, dass sein Vater nicht länger ihr Mentor war? Sie seufzte. Wahrscheinlich würde er - wie die übrigen Magier - in diesem Wechsel einen »Glücksfall« für sie sehen - aber wenn er hier gewesen wäre, hätte er gewiss gespürt, dass etwas nicht stimmte, davon war sie überzeugt. Er hätte ihre Angst bemerkt und Rothens Zorn.

Aber er war nicht hier. Er war weit fort in seinem kleinen Dorf in den Bergen.

Irgendwann würde Dorrien der Gilde abermals einen Besuch abstatten. Und dann würde er sie sehen wollen. Würde Akkarin es ihm erlauben? Sonea lächelte. Selbst wenn Akkarin es verbieten sollte, Dorrien würde einen Weg finden, um sich mit ihr zu treffen. Außerdem würde es Verdacht erregen, wenn er Dorrien davon abzuhalten versuchte.

Oder irrte sie sich da? Akkarin konnte einfach behaupten, dass Dorrien sie von ihrem Studium ablenkte. Selbst wenn Dorrien dieses Verhalten merkwürdig finden sollte, würde niemand sonst die Entscheidung des Hohen Lords in Frage stellen. Sonea runzelte die Stirn. Was würde geschehen, wenn Dorrien etwas bemerkte, wenn er spürte, dass etwas nicht stimmte? Was würde er tun? Was würde Akkarin tun? Sie schauderte. Im Gegensatz zu Rothen und ihr lebte Dorrien weit entfernt von der Gilde. Wer würde Fragen stellen, wenn ein Heiler, der in irgendeinem kleinen Bergdorf lebte, durch einen »Unfall« den Tod fand?

Sonea drückte die Schnitzerei fest an sich. Sie durfte Akkarin keinen Grund geben, Dorrien besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn Dorrien in die Gilde zurückkehrte, würde sie ihm erklären müssen, dass sie nichts für ihn empfand. Schließlich hatte er selbst gesagt, dass sie in den Jahren bis zu ihrem Abschluss vielleicht einen anderen finden würde. Sollte er glauben, dass es sich tatsächlich so verhielt.

Aber es konnte niemals einen anderen geben. Nicht solange sie Akkarins Geisel war. Akkarin stellte eine Gefahr für jeden Menschen dar, der ihr etwas bedeutete. Und was war mit ihrer Tante und ihrem Onkel und ihrem kleinen Vetter? Wenn Akkarin wüsste, wo ihre Familie zu finden war, könnte er auch sie benutzen, um Sonea zu erpressen.

Seufzend legte sie sich auf das Bett.

Wann hatte es angefangen, dass in ihrem Leben alles schief ging? Ihre Gedanken kehrten zum Nordplatz zurück. Seit jenem Tag hatte ihr Schicksal in den Händen anderer gelegen: Zuerst waren es Cery und Harrin gewesen, dann die Diebe, dann Rothen und jetzt Akkarin. Vor dieser Zeit war sie ein Kind gewesen und hatte unter dem Schutz ihrer Tante und ihres Onkels gestanden. Würde sie jemals selbst die Verantwortung für ihr Leben übernehmen können?

Aber ich lebe, rief sie sich ins Gedächtnis. Im Augenblick kann ich nur Geduld haben und hoffen, dass irgendetwas geschehen wird, das die Dinge zum Besseren wendet - und dafür sorgen, dass ich bis dahin genug gelernt habe, um helfen zu können.

Sie stand wieder auf und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Wenn etwas geschah, würde es wahrscheinlich mit Magie zu tun haben, daher sollte sie dafür sorgen, dass sie für diesen Fall so gut wie möglich gerüstet war. Morgen würden die Prüfungen in der Disziplin der Heiler stattfinden, daher war es das Beste, wenn sie ihre Notizen noch einmal durchging.

Rothen stand vor dem Fenster und blickte zur Residenz des Hohen Lords hinüber. Vor ungefähr zwei Stunden waren im Nordturm des Gebäudes kleine helle Quadrate aufgetaucht. Rothen war davon überzeugt, dass Soneas Räume hinter diesen Fenstern lagen. Welche Ängste sie jetzt ausstehen und wie verloren sie sich fühlen musste …

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er zwang sich dazu, zu seinem Sessel im Empfangsraum zurückzukehren, setzte sich hin und betrachtete die Überreste seiner halb verzehrten Mahlzeit.

Was kann ich tun? Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann.

Diese Frage hatte er sich wieder und wieder gestellt. Und jedes Mal fiel die Antwort gleich aus.