So viel du zu tun wagst.
Alles hing von Soneas Sicherheit ab. Am liebsten wäre er aus dem Raum gestürzt, um die Wahrheit herauszuschreien, um all die Magier wachzurütteln, die Akkarins Entscheidung so blind akzeptiert hatten. Aber wenn er das tat, das wusste er, wäre Sonea die Erste, die Akkarin zum Opfer fallen würde. Er würde ihre Kraft nutzen, um gegen die Gilde zu kämpfen; Soneas Tod würde Akkarin helfen, alle anderen Magier zu besiegen.
Rothen wünschte sich verzweifelt, er hätte mit Lorlen reden können. Aber Akkarin hatte jeden Kontakt zwischen ihnen verboten, und selbst wenn Rothen es riskiert hätte, Lorlen aufzusuchen, wäre ihm das nicht möglich gewesen. Der Administrator hatte sich in seine Wohnräume zurückgezogen, um sich auszuruhen. Seit Rothen das gehört hatte, quälte ihn die Frage, ob Lorlen bei seiner Auseinandersetzung mit Akkarin verletzt worden war. Diese Möglichkeit war beängstigend. Wenn Akkarin seinem engstem Freund etwas antun konnte, welche Gefahren drohten dann jenen, die ihm gleichgültig waren?
Fragen über Fragen gingen Rothen durch den Kopf. Wie lange praktizierte Akkarin bereits schwarze Magie? Seit er zum Hohen Lord ernannt worden war? Länger?
Seit Sonea ihm von Akkarins Geheimnis erzählt hatte, hatte Rothen viele Male darüber nachgedacht, wie Akkarin dazu gekommen war, schwarze Magie zu erlernen. Es hieß allgemein, die Gilde habe bereits vor Jahrhunderten sämtliches Wissen über diese Magie zerstört. Man erklärte den Höheren Magiern, woran sie sie erkennen konnten, aber das war alles. Dennoch war es möglich, dass Akkarin Zugang zu vergessenen Dokumenten hatte, die irgendwo in der Gilde verborgen waren.
Hatte er bereits vor seinen Reisen Kenntnisse über schwarze Magie gehabt, oder waren es gerade diese Reisen gewesen, die ihm Zugang zu dem verbotenen Wissen verschafft hatten?
Plötzlich kam Rothen eine Idee: In denselben Quellen, die Kenntnisse über diese dunklen Kräfte lieferten, ließ sich vielleicht auch ein Gegenmittel finden. Wenn Akkarin während seiner Reisen auf schwarze Magie gestoßen war, dann konnte ein anderer Magier vielleicht das Gleiche tun. Rothen seufzte. Wenn er die Gilde hätte verlassen können, hätte er all seine Kraft darauf verwandt, nach diesem Wissen zu suchen. Aber er konnte nicht fortgehen. Wahrscheinlich behielt Akkarin ihn genau im Auge. Er würde nicht wollen, dass Rothen in den Verbündeten Ländern umherstreifte, wo er ihn nicht beobachten konnte.
Dann muss es ein anderer tun. Rothen nickte vor sich hin. Jemand, dem es freisteht zu reisen. Jemand, der diese Aufgabe erfüllen wird, ohne viele Fragen zu stellen. Jemand, dem ich vertrauen kann…
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Rothens Zügen aus. Er kannte genau den richtigen Mann für diese Aufgabe.
Dannyl.
Hunderte von Fackeln flackerten im kühlen Abendwind. Der Trommler am Bug des Bootes gab den langsamen Rhythmus vor, nach dem sich die Männer in die Riemen legten. Die Felsen warfen leise, getragene Gesänge zurück, die Dannyl frösteln ließen. Er sah zu Tayend hinüber, der voller Staunen die anderen Boote um sie herum betrachtete. Nach einigen Wochen der Ruhe wirkte der Höfling inzwischen deutlich gesünder.
»Geht es dir gut?«, murmelte Dannyl.
Tayend nickte und deutete auf den Schiffsrumpf. »Wir haben praktisch keinen Seegang.«
Kurz darauf war ein leises, scharrendes Geräusch zu hören. Die Ruderer sprangen leichtfüßig in das seichte Wasser und zogen das Boot auf den Strand. Als das Wasser sich zurückgezogen hatte, sprang Tayend ebenfalls von Bord und fluchte leise, als seine eleganten Schuhe im nassen Sand versanken.
Leise lachend stieg nun auch Dannyl aus, und gemeinsam gingen sie über den Strand auf den von Fackeln beschienenen Weg zu. Vor ihnen setzte sich eine Prozession trauernder Menschen den Felsen hinauf in Bewegung. Dannyl und Tayend hielten respektvoll Abstand.
Jeden Monat bei Vollmond besuchte das Volk von Vin diese Höhlen, in denen sich die Gräber der Toten befanden. Die Menschen legten Geschenke vor die Überreste ihrer Vorfahren und wandten sich mit ihren Sorgen an die Geister der Toten. Einige der Gräber waren so alt, dass es keine Nachfahren mehr gab, die sie besuchten, und eines der ältesten Gräber war der Grund, warum Dannyl und Tayend hierher gekommen waren.
Schweigend, wie die Sitte der Vindo es verlangte, machten sie sich an den Aufstieg. Als sie die ersten Höhlen erreichten, war Tayend bereits außer Atem. Nach einer kurzen Rast setzten er und Dannyl den Weg über die schmalen Treppenstufen fort, die in den Felsen gehauen worden waren.
»Warte. Sieh dir das an.«
Tayend zeigte auf einen Höhleneingang, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Eine Verwerfung im Fels verbarg einen schmalen Riss, der gerade breit genug war, dass sich ein Mann seitlich hindurchschieben konnte. Darüber war ein Symbol in den Felsen eingemeißelt.
Dannyl erkannte das Symbol und ging auf den Felsspalt zu, um hindurchzuspähen. Er konnte nur Schwärze sehen. Schließlich trat er einen Schritt zurück und schuf eine Lichtkugel.
Als das Licht auf das Gesicht eines Mannes fiel, stieß Tayend einen unterdrückten Schrei aus. Der Mann blinzelte Dannyl an und murmelte einige Worte in der Sprache der Vindo. Als Dannyl klar wurde, dass er hier einen Grabwächter vor sich hatte, sprach er die rituellen Grußworte, die man ihn gelehrt hatte.
Der Mann nickte zur Antwort, dann trat er beiseite und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Als Dannyl sich durch die Öffnung schob, beleuchtete seine Lichtkugel die blank polierte Zeremonienrüstung des Mannes und das kurze Schwert, das er an der Hüfte trug. Der Wächter verbeugte sich steif.
Sie waren in einen kleinen Raum gelangt. Ein niedriger Gang führte tiefer in den Felsen hinein, dessen Wände über und über mit Gemälden bedeckt waren. Tayend stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Ihr braucht einen Führer«, sagte der Wächter. »Damit ihr euch nicht verirrt. Ihr dürft nichts von hier mitnehmen, nicht einmal einen Stein.« Er zog eine kleine Flöte hervor und entlockte ihr einen einzelnen Ton. Kurz darauf erschien ein Junge, der nur ein schlichtes, gegürtetes Hemd trug, in der Tür. Er winkte Dannyl und Tayend zu sich heran und bedeutete ihnen vorauszugehen. Schweigend folgte er ihnen durch einen schmalen Tunnel.
Tayend setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe, und da er jedes einzelne der Wandgemälde genau betrachtete, kamen sie nur langsam voran.
»Irgendetwas Interessantes?«, fragte Dannyl, als der Gelehrte zum dritten Mal stehen blieb.
»Oh ja«, flüsterte Tayend. Dann lächelte er Dannyl entschuldigend an. »Es hat allerdings nichts mit dem zu tun, wonach du suchst.«
Je weiter sie kamen, desto unwohler fühlte sich Dannyl. Falls der Tunnel einstürzte, konnte er eine Barriere heraufbeschwören und verhindern, dass sie von dem Erdreich zerquetscht wurden. Er hatte etwas Ähnliches vor einem Jahr getan, als die Diebe einen ihrer Tunnel zum Einsturz gebracht hatten, um Sonea vor der Gilde zu verstecken.
Aber dies war etwas anderes; dieser Felsen war bei weitem gewaltiger als alles, womit er es in Imardin je zu tun gehabt hatte. Schaudernd zwang er sich weiterzugehen.
»Geht es dir gut?«
Dannyl zuckte heftig zusammen. Tayend hatte sich zu ihm umgewandt und sah ihn forschend an.
»Natürlich. Warum fragst du?«
»Du atmest ein wenig schnell.«
»Oh. Tue ich das?«
»Ja.«
Nach einigen weiteren Schritten holte Dannyl schließlich tief Luft und begann eine Übung zur Beruhigung des Geistes.
Tayend musterte ihn und lächelte. »Hast du Probleme damit, dich unter der Erde aufzuhalten?«
»Nein.«
»Viele Menschen fühlen sich an solchen Orten unwohl. In der Bibliothek habe ich im Laufe der Jahre viele Besucher gehabt, die in Panik geraten sind, deshalb kenne ich die Anzeichen. Du sagst mir Bescheid, wenn du in Panik gerätst, ja? Ich finde den Gedanken ein wenig beunruhigend, in der Nähe eines Magiers zu sein, der die Beherrschung verliert.«
Dannyl lächelte. »Mir geht es gut. Ich musste nur an einige unangenehme Erfahrungen denken, die ich an ähnlichen Orten gemacht habe.«