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»Ah. Erzähl mir davon.«

Aus irgendeinem Grund half es Dannyl, die beiden Erfahrungen miteinander zu vergleichen. Er berichtete seinem Freund von dem Versuch der Diebe, ihn in ihren Tunneln zu begraben, und darüber kam er schließlich auf die Suche nach Sonea zu sprechen. Als er von seiner Begegnung mit dem Hohen Lord in den unterirdischen Gängen der Universität erzählte, wurden Tayends Augen schmal.

»Du hast Angst vor ihm, nicht wahr?«

»Nein. Es ist weniger Angst als… Nun, es kommt auf die Situation an.«

Tayend kicherte leise. »Also, wenn selbst ein so beängstigender Mensch wie du sich vor dem Hohen Lord fürchtet, dann möchte ich ihm heute lieber nicht mehr über den Weg laufen.«

Dannyl blieb jäh stehen. »Ich bin beängstigend?«

»Oh ja.« Tayend nickte. »Sehr beängstigend.«

»Aber…« Dannyl schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts getan, um…« Er hielt inne, denn ihm war plötzlich der Straßenräuber wieder eingefallen. »Nun, wahrscheinlich habe ich doch etwas getan, das einigermaßen beängstigend war - aber vor diesem Zwischenfall hattest du doch gewiss keine Angst vor mir, oder?«

»Oh doch.«

»Warum?«

»Alle Magier sind beängstigend. Jeder hat Geschichten darüber gehört, wozu sie imstande sind - aber eigentlich sind es gerade die Dinge, die man nicht weiß, die einem Angst machen.«

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Nun, du hast inzwischen ja gesehen, wozu ich imstande bin. Aber ich hatte nicht die Absicht, ihn zu töten.«

Tayend sah ihn eine Weile schweigend an. »Wie fühlst du dich, wenn du an diesen Vorfall zurückdenkst?«

»Nicht besonders gut«, gab Dannyl zu. »Und du?«

»Ich bin mir nicht sicher. Es ist so, als hätte ich zwei einander entgegengesetzte Meinungen über den Vorfall. Es tut mir nicht Leid, dass du den Mann getötet hast, aber grundsätzlich glaube ich, dass es falsch ist zu töten. Am meisten macht mir wahrscheinlich die Ungewissheit zu schaffen. Wer weiß wirklich, was Recht ist und was Unrecht? Ich habe mehr Bücher gelesen als die meisten Menschen, die ich kenne, und sie alle widersprechen einander. Trotzdem gibt es da etwas, das ich dir noch sagen wollte.«

Dannyl zwang sich, Tayend in die Augen zu sehen. »Ja?«

»Danke.« Tayends Miene war sehr ernst. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

Etwas in Dannyl löste sich wie ein Knoten, der entwirrt wurde. Er begriff, dass es für ihn ungeheuer wichtig gewesen war, diese Worte des Dankes von Tayend zu hören. Sie erleichterten zwar sein Gewissen nicht, halfen ihm aber, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.

Plötzlich fiel ihm auf, dass der Schein seiner Lichtkugel nicht mehr bis zu der Felswand vor ihnen reichte. Er runzelte die Stirn, aber im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie zu einer größeren Höhle kamen. Ein mineralischer Geruch erregte seine Aufmerksamkeit. Als sie sich der Höhlenöffnung näherten, wurde der Geruch deutlicher, und Dannyl sandte seine Lichtkugel voraus. Tayend sog scharf die Luft ein.

Die Höhle war so breit wie die Gildehalle und voller glitzernder Vorhänge und weißer Türme. Man hörte Wasser tropfen. Als Dannyl genauer hinsah, konnte er erkennen, dass von den Enden der Stalaktiten Tropfen auf den Boden fielen. Zwischen den Stalagmiten, die an Raubtierzähne erinnerten, hatte sich ein flacher Wasserlauf gebildet.

»Die Gräber der Weißen Tränen«, murmelte Tayend.

»Gebildet von Wasser, das durch die Decke tröpfelt und auf seinem Weg Mineralien zurücklässt«, erklärte Dannyl.

Tayend verdrehte die Augen. »Das war mir bekannt.«

Ein rutschiger Weg führte in die Höhle hinunter. Sie kamen an immer fantastischeren weißen Gebilden vorbei, bis Tayend plötzlich stehen blieb.

»Der Mund des Todes«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Vor ihnen zog sich eine Reihe von Stalagmiten und Stalaktiten quer durch die Höhle. Einige waren zusammengewachsen und bildeten dicke Säulen. Die Lücken zwischen anderen waren so schmal, dass man den Eindruck hatte, als würden sie einander binnen weniger Augenblicke erreichen müssen.

Sie stießen auf immer neue Gräber in kleinen Nischen links und rechts, und je weiter sie kamen, desto älter und zahlreicher wurden diese Gräber. Schließlich konnte man die Skelette kaum mehr erkennen, so weit waren die Alkoven im Laufe der Zeit zugewachsen.

Dannyl wusste, dass mehrere Stunden verstrichen waren. Die Vindo erlaubten es niemandem, die Gräber bei Tageslicht zu besuchen, und er machte sich langsam Sorgen, dass sie es nicht mehr rechtzeitig vor dem Aufbruch ihres Bootes bis zum Strand schaffen würden. Als sie das Ende des Tunnels erreichten, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Hier ist nichts«, sagte Tayend, während er sich gründlich umsah.

Die Felswände um sie herum waren vollkommen unversehrt. Dannyl wandte sich nach rechts und unterzog die Wände einer genauen Musterung. An manchen Stellen schienen sie beinahe durchsichtig zu sein. Tayend folgte seinem Beispiel und untersuchte die Felsen auf der linken Seite. Nach einigen Minuten flüsterte er aufgeregt Dannyls Namen.

Als Dannyl neben seinen Freund trat, sah er, dass Tayend auf ein kleines Loch im Gestein deutete.

»Kannst du ein Licht dort hineinschicken?«

»Ich werde es versuchen.«

Dannyl beschwor einen winzigen Funken herauf und sandte ihn in das Loch. Das Licht bewegte sich durch eine fingerdicke Steinwand und dann weiter in die Dunkelheit hinein.

Plötzlich erschien ein Lächeln auf Dannyls Zügen.

»Was hast du entdeckt?«, fragte Tayend aufgeregt. »Lass mich sehen!«

Dannyl trat beiseite, während Tayend in das Loch spähte. Die Augen des Gelehrten weiteten sich. Hinter der Wand aus weißem Kalkstein befand sich eine kleine Höhle, in deren Mitte ein geschnitzter Sarg lag. Die Felswände waren zum Teil mit mineralischen Ablagerungen bedeckt, aber man konnte noch immer viel von den ursprünglichen Schnitzereien erkennen.

Tayend nahm mit leuchtenden Augen einige Bögen Papier und einen Zeichenstift aus der Tasche seines Mantels. »Wie viel Zeit habe ich?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Eine Stunde, wahrscheinlich weniger.«

»Das wird genügen. Können wir noch einmal hierher kommen?«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«

Tayend grinste. »Wir haben es gefunden, Dannyl! Wir haben gefunden, wonach dein Hoher Lord gesucht hat. Einen Beweis für alte Magie!«

22

Ausweichmanöver

Als Sonea das Heilerquartier verließ, begegnete sie auf allen Wegen ausgelassenen Novizen, die keinen Hehl aus ihrer Freude machten. Der letzte Gongschlag war kaum verklungen, als auch schon Studenten aller Altersstufen begonnen hatten, über höfische Tänze und Spiele zu reden, von denen Sonea noch nie gehört hatte.

Während der nächsten zwei Wochen würde man auf dem Gelände der Gilde nur noch wenige braune Roben zu sehen bekommen, da die Novizen - und auch etliche Magier - für die Winterferien zu ihren Familien zurückkehrten. Wenn ich doch nur auch fortgehen könnte. Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Tante, ihren Onkel und das Baby in den Hüttenvierteln. Aber er würde mir das niemals gestatten.

Als sie die Universität erreichte, blieb sie stehen, um mehrere ältere Novizen vorbeizulassen. Einige Nachzügler rannten an ihr vorbei die Treppe hinauf. Im ersten Stock angekommen, war sie jedoch plötzlich ganz allein.

Der Flur wirkte so still und verlassen, wie sie es noch nie erlebt hatte, nicht einmal spätabends. Sonea drückte ihren Bücherkoffer fester an sich und bog hastig in einen Seitengang ein.

Als sie die Novizenbibliothek erreichte, stellte sie fest, dass sie auch dort allein war. Sie öffnete die Tür und verbeugte sich vor der Bibliothekarin, Lady Tya.

»Es tut mir Leid, Sonea«, sagte Tya, »die Bibliothek schließt jetzt. Ich habe gerade alles aufgeräumt.«