»Wird die Bibliothek während der Ferien geöffnet sein, Mylady?«
Die Bibliothekarin schüttelte den Kopf. Sonea nickte und kehrte unverrichteter Dinge wieder um.
Draußen im Flur lehnte sie sich leise fluchend an die Wand. Wohin sollte sie jetzt gehen? Überallhin, nur nicht in die Residenz des Hohen Lords. Zitternd betrachtete sie die Gänge zu beiden Seiten. Der Gang auf der rechten Seite führte zurück auf den Hauptflur. Aber wohin gelangte man, wenn man den linken nahm?
Mit einem grimmigen Lächeln beschloss sie, es herauszufinden.
Ein vierfaches kräftiges Klopfen erklang an der Tür, und Lorlen gefror das Blut in den Adern.
Das hörte sich weder nach Osen an noch nach dem schüchternen Klopfen, mit dem sich Lorlens Diener bemerkbar machte. Es war ein Klopfen, das er gefürchtet hatte, ein Klopfen, von dem er gewusst hatte, dass es kommen würde.
Und jetzt, da es so weit war, konnte er sich plötzlich nicht mehr bewegen. Er starrte die Tür an und hoffte vergeblich, dass der Besucher einfach wieder weggehen würde.
— Mach die Tür auf, Lorlen.
Der knappe Befehl ließ ihn auffahren. Es klang anders als sonst, so als hätte eine echte Stimme in seinem Kopf gesprochen.
Lorlen holte tief Luft. Irgendwann würde er Akkarin ohnehin gegenübertreten müssen. Warum den Augenblick in die Länge ziehen? Mit einem tiefen Seufzer gab Lorlen der Tür den Befehl, sich zu öffnen.
»Guten Abend, Lorlen.«
Akkarin trat ein und bedachte Lorlen mit dem typischen, nur angedeuteten Lächeln, mit dem er ihn im Allgemeinen begrüßte. Als seien sie nach wie vor gute Freunde.
»Hoher Lord.« Lorlen schluckte. Sein Herz hämmerte zu schnell, und er wäre am liebsten in seinem Sessel versunken. Dann flammte Ärger in ihm auf. Du bist der Administrator der Gilde, sagte er sich, benimm dich also wenigstens würdevoll. Er zwang sich, aufzustehen und Akkarin anzusehen.
»Du bist heute Abend nicht im Abendsaal gewesen?«, fragte Akkarin.
»Ich war nicht in Stimmung dazu.«
Stille folgte, dann verschränkte Akkarin die Arme vor der Brust. »Ich habe ihnen nichts zuleide getan, Lorlen.« Akkarins Stimme klang sehr leise. »Ebenso wenig wie dir. Sonea wird von ihrer veränderten Situation sogar profitieren. Trotz Rothens Bemühungen haben ihre Lehrer sie vernachlässigt. Jetzt werden sie sich förmlich selbst übertreffen, um ihr zu helfen - und sie wird ihre Hilfe brauchen, wenn sie das Potenzial, das ich in ihr gesehen habe, voll ausschöpfen will.«
Lorlen starrte Akkarin schockiert an. »Du liest ihre Gedanken?«
Akkarin zog eine Augenbraue hoch. »Natürlich. Sie mag klein von Wuchs sein, aber sie ist kein Kind mehr. Du weißt das, Lorlen. Du hast ebenfalls ihre Gedanken gelesen.«
»Das war etwas anderes.« Lorlen wandte den Blick ab. »Sie hat mich aus freien Stücken eingelassen.« Zweifellos hatte Akkarin auch Rothens Gedanken gelesen. Einmal mehr plagten Lorlen Schuldgefühle.
»Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin«, erklärte Akkarin. »Nichts hat dich je vom Abendsaal fern halten können, wenn gerade so viele Gerüchte und Spekulationen im Umlauf waren. Man wird von dir erwarten, dass du dich dort einfindest. Es ist an der Zeit, dass du aufhörst, Trübsal zu blasen, mein Freund.«
Freund? Lorlen runzelte die Stirn und blickte auf den Ring hinab. Was für eine Art Freund tat einem anderen so etwas an? Was für eine Art Administrator gestattet es einem schwarzen Magier, eine Novizin als Geisel zu nehmen? Er seufzte. Einer, der keine andere Wahl hat.
Um Sonea zu schützen, musste er so tun, als sei nichts geschehen. Jedenfalls nichts Außergewöhnlicheres, als dass der Hohe Lord endlich einen Schützling erwählt und sie alle in Erstaunen gesetzt hatte, weil er sich ausgerechnet für ein Hüttenmädchen entschieden hatte. Er nickte.
»Also gut, ich werde hingehen. Kommst du mit?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Nein, ich werde in meine Residenz zurückkehren.«
Lorlen nickte abermals. Wenn Akkarin im Abendsaal auftauchte, würde allein seine Anwesenheit jedem Klatsch einen Riegel vorschieben. In seiner Abwesenheit jedoch würde man die Fragen, die dem Hohen Lord zu stellen niemand wagte, stattdessen an den Administrator richten. Und wie üblich würde Akkarin einen Bericht erwarten.
Dann erinnerte sich Lorlen wieder an den Ring. Akkarin brauchte nicht auf einen Bericht zu warten. Er würde ohnehin alles hören, was in seiner, Lorlens, Gegenwart gesprochen wurde.
Lorlen stand auf, ging in sein Schlafzimmer, spritzte sich ein wenig Wasser aus einer Schale ins Gesicht und blickte in den Spiegel. Zwei dunkle Ringe unter den Augen bezeugten die schlaflosen Nächte, die hinter ihm lagen. Er band sich das Haar im Nacken zusammen, strich mit ein klein wenig Magie seine zerknitterte Robe glatt und kehrte dann in den Empfangsraum zurück, um Akkarin erneut gegenüberzutreten. Ein schwaches Lächeln spielte um die Mundwinkel des Hohen Lords. Lorlen wandte sich ab, zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene und gab der Tür den Befehl, sich zu öffnen.
Als er zusammen mit Akkarin durch die Flure ging, bemerkte er, dass die Magier, die ihnen entgegenkamen, ihn forschend ansahen. Er nickte ihnen höflich zu. Natürlich fielen ihnen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, und sie würden daraus den Schluss ziehen, dass er krank gewesen sei. Draußen vor dem Magierquartier wünschte Akkarin ihm eine gute Nacht und verschwand in der Universität.
Lorlen, der bald darauf den Abendsaal erreicht hatte, begrüßte zwei Magier, die gleichzeitig mit ihm dort ankamen. Wie er erwartet hatte, erkundigten sie sich nach seinem Befinden. Er versicherte ihnen, dass ihm nichts fehle, und ließ ihnen am Eingang zum Saal den Vortritt.
Als sich die inneren Türen öffneten, drehten sich etliche Köpfe in seine Richtung. Etwas im Tonfall der gemurmelten Gespräche veränderte sich, während Lorlen langsam zu seinem Lieblingssessel hinüberging. Mehrere Leute, darunter viele Höhere Magier, hatten sich bereits dort versammelt.
Zu seiner Erheiterung fand er Lord Yikmo auf seinem Platz vor. Der junge Krieger sprang hastig auf.
»Administrator Lorlen!«, rief er. »Bitte, setzt Euch. Geht es Euch gut? Ihr seht müde aus.«
»Mir geht es gut, danke der Nachfrage«, erwiderte Lorlen.
»Das freut mich zu hören«, sagte Yikmo. »Wir hatten gehofft, dass Ihr heute Abend kommen würdet, aber ich hätte es gut verstanden, wenn Ihr all den Fragen über Sonea und den Hohen Lord lieber ausgewichen wärt.«
Lorlen brachte ein Lächeln zustande. »Aber ich hätte euch alle doch nicht länger im Ungewissen lassen können, nicht wahr?« Lorlen lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf die erste Frage. Drei Magier, darunter Lord Peakin, begannen gleichzeitig zu sprechen. Sie unterbrachen sich und sahen einander an, dann nickten zwei von ihnen dem Oberhaupt der Alchemisten höflich zu.
»Habt Ihr gewusst, dass Akkarin sich mit dem Gedanken trug, sie in seine Obhut zu nehmen?«, fragte Lord Peakin.
»Nein«, gab Lorlen zu. »Er hatte bisher nicht mehr Interesse an ihr gezeigt als an allen anderen Novizen. Gewiss haben wir von Zeit zu Zeit über sie gesprochen, aber davon abgesehen hat er seine Überlegungen für sich behalten. Möglich, dass er sich schon seit Wochen oder gar Monaten mit dem Gedanken getragen hat, Rothen als Soneas Mentor abzulösen.«
»Warum ausgerechnet Sonea?«, hakte Lord Garrel nach.
»Auch hier muss ich gestehen, dass ich mir nicht sicher bin. Irgendetwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben.«
»Vielleicht war es ihre Stärke«, überlegte Lord Yikmo laut. »Die Sommernovizen haben uns auf Soneas Potenzial aufmerksam gemacht, als sie alle gemeinsam ihre vereinten Kräfte gegen das Mädchen eingesetzt haben.«
»Dann hat er sie geprüft?«
Lorlen zögerte kurz, bevor er nickte. »Ja.«
Die Magier um ihn herum tauschten mitfühlende Blicke.
»Was ist bei dieser Prüfung herausgekommen?«, wollte Peakin wissen.