Lorlen stand auf. »Das hängt davon ab, wie gut sich Sonea an diesen Wechsel gewöhnt. Ich finde, es ist ein wenig viel für sie, nach allem, was sie bereits durchgemacht hat.«
»Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken«, gab Osen zu, als er Lorlen zur Tür folgte. »Aber ich bin davon überzeugt, dass sie es schaffen wird.«
Lorlen nickte. Ich hoffe es. »Gute Nacht, Osen.«
»Gute Nacht, Administrator.«
Die Schritte des jungen Magiers hallten durch den Gang, als er sich entfernte. Lorlen, der nun in die Eingangshalle trat, hatte das Gefühl, von einer Wolke dunkler Vorahnungen umhüllt zu sein. Einen Moment lang blieb er oben an der Treppe stehen, um über die Gärten zur Residenz des Hohen Lords zu blicken. Seit jenem Abend, an dem Akkarin seine Gedanken gelesen hatte, war er nicht mehr dort gewesen. Die Erinnerung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Schließlich holte er tief Luft und zwang sich, an Sonea zu denken. Um ihrer Sicherheit willen musste er Akkarin gegenübertreten. Die Einladung des Hohen Lords ließ sich nicht ausschlagen.
Nachdem er widerstrebend einige Schritte gegangen war, beschleunigte er sein Tempo. Am besten, er brachte die Sache schnell hinter sich. An der Tür der Residenz hielt er mit hämmerndem Herzen inne, bevor er anklopfte. Wie immer schwang die Tür bei der ersten Berührung nach innen auf. Als Lorlen sah, dass sich niemand im Raum aufhielt, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und trat ein.
Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Aus dem dunklen Rechteck des Treppenhauses auf der rechten Seite löste sich ein Schatten. Akkarins schwarze Roben raschelten leise, als er näher kam.
Schwarze Roben. Schwarze Magie. Ironischerweise war Schwarz seit jeher die Farbe des Hohen Lords gewesen. Du hättest diese Anweisung nicht gar so wörtlich nehmen müssen, dachte Lorlen.
Akkarin kicherte. »Wein?«
Lorlen schüttelte den Kopf.
»Dann setz dich. Entspann dich.«
Entspannen? Wie hätte er sich entspannen können? Und diese freundliche Vertrautheit, mit der der andere Mann ihm begegnete, missfiel ihm zutiefst. Lorlen blieb stehen und beobachtete, wie Akkarin zu dem Weinschrank hinüberging und nach einer Flasche griff.
»Wie geht es Sonea?«
Akkarin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich bin mir nicht einmal sicher, wo genau sie sich gerade aufhält. Irgendwo in der Universität, nehme ich an.«
»Sie ist nicht hier?«
»Nein.« Akkarin drehte sich um und deutete auf die Sessel. »Nimm Platz.«
»Dann hast du ihr… du hast ihr keinen dieser Ringe gegeben?«
»Nein.« Akkarin trank einen Schluck Wein. »Ich überprüfe von Zeit zu Zeit, was sie tut. Sie hat einige Tage mit der Erkundung der Universität verbracht, und jetzt, nachdem sie einige Schlupfwinkel gefunden hat, in denen sie sich verstecken kann, füllt sie ihre Zeit mit Büchern. Abenteuergeschichten, soweit ich das beurteilen kann.«
Lorlen runzelte die Stirn. Er war froh darüber, dass Akkarin Sonea nicht gezwungen hatte, während der Ferien in ihrem Zimmer zu bleiben, aber die Tatsache, dass sie sich in irgendwelchen Winkeln der Universität versteckte, bestätigte ihm, wie verängstigt und unglücklich das Mädchen sein musste.
»Bist du dir sicher, dass du keinen Wein willst? Der dunkle Anurener ist in diesem Jahr besonders gut.«
Lorlen warf einen Blick auf die Flasche, dann schüttelte er den Kopf. Seufzend ging er zu einem der Sessel hinüber und setzte sich.
»Sonea macht mir lange nicht so viel Mühe, wie ich befürchtet hatte«, sagte Akkarin, während er ebenfalls Platz nahm. »Die Ernennung zu ihrem Mentor kompliziert zwar alles ein wenig, aber das ist immer noch besser als die Alternative.«
Lorlen schloss die Augen und versuchte, nicht darüber nachzudenken, worin diese Alternative bestehen mochte. Er holte tief Luft, dann zwang er sich, Akkarin anzusehen.
»Warum hast du das getan, Akkarin? Warum schwarze Magie?«
Akkarin hielt seinem Blick gelassen stand. »Es gibt niemanden, dem ich meine Beweggründe lieber verraten würde als dir. Ich habe beobachtet, wie dieses Wissen deine Einstellung zu mir verändert hat. Wenn du geglaubt hättest, es sei möglich, mich zu besiegen, hättest du die ganze Gilde gegen mich antreten lassen. Warum hast du nicht mit mir gesprochen, sobald du davon erfahren hast?«
»Weil ich nicht wusste, was du tun würdest.«
»Nach all den Jahren, die wir Freunde waren, hast du mir nicht vertraut?«
»Nach dem, was ich in Soneas Erinnerung gesehen habe, ist mir klar geworden, dass ich dich überhaupt nicht kenne.«
Akkarin hob die Augenbrauen. »Das ist verständlich. Die Vorstellung, schwarze Magie sei böse, ist sehr mächtig.«
»Ist sie böse?«
Akkarin runzelte die Stirn, und ein geistesabwesender Ausdruck trat in seine Augen. »Ja.«
»Warum praktizierst du sie dann?«, fragte Lorlen scharf. Er hielt die Hand hoch, an der der Ring steckte. »Warum dies hier?«
»Das kann ich dir nicht verraten. Sei versichert, ich habe nicht die Absicht, die Herrschaft über die Gilde an mich zu reißen.«
»Das brauchst du auch gar nicht. Du bist bereits Hoher Lord.«
Akkarins Mundwinkel zuckten. »Das bin ich, nicht wahr? Dann lass dir gesagt sein, dass ich nicht die Absicht habe, die Gilde zu zerstören oder irgendetwas anderes, das dir teuer ist.« Er stellte sein Glas ab, erhob sich und trat vor den Serviertisch. Dort füllte er ein zweites Glas und reichte es Lorlen. »Eines Tages werde ich dir alles erklären. Das verspreche ich.«
Lorlen starrte Akkarin an. Der Blick der dunklen Augen war ruhig und fest. Widerstrebend akzeptierte Lorlen das Glas und die Zusage seines Freundes. »Ich werde dich beim Wort nehmen.«
Akkarin öffnete den Mund zu einer Antwort, brach jedoch ab, als er ein leises Klopfen hörte.
Die Tür schwang auf. Der Schein von Akkarins Lichtkugel drang kaum bis zu Soneas Augen vor, als sie mit gesenktem Kopf eintrat.
»Guten Abend, Sonea«, sagte Akkarin freundlich.
Sie verneigte sich. »Guten Abend, Hoher Lord, Administrator«, erwiderte sie mit leiser Stimme.
»Womit hast du dir heute die Zeit vertrieben?«
Sie deutete auf die Bücher, die sie sich an die Brust drückte. »Ich habe ein wenig gelesen.«
»Jetzt, da die Bibliothek geschlossen ist, hast du gewiss nur wenig Auswahl. Gibt es irgendwelche Bücher, die du gern kaufen würdest?«
»Nein, Hoher Lord.«
»Es würden sich gewiss auch andere Unterhaltungen arrangieren lassen, wenn das dein Wunsch wäre.«
»Nein, vielen Dank, Hoher Lord.«
Akkarin zog eine Augenbraue hoch, dann hob er die Hand. »Du darfst jetzt gehen.«
Mit erleichterter Miene eilte sie zu dem Treppenaufgang auf der linken Seite hinüber. Lorlen sah ihr mitleidig nach.
»Sie muss sehr unglücklich sein«, murmelte er.
»Hm. Ihre Schweigsamkeit ist ein wenig ärgerlich«, sagte Akkarin leise, beinahe so, als spreche er mit sich selbst. Schließlich kehrte er zu seinem Sessel zurück und griff wieder nach seinem Weinglas. »Also, erzähl mir, haben Peakin und Davin ihren Disput inzwischen beigelegt?«
Rothen, der am Fenster lehnte, sah zu dem kleinen Lichtquadrat auf der anderen Seite der Gärten hinüber. Vor wenigen Minuten hatte er beobachtet, wie sich eine zierliche Gestalt der Residenz näherte. Einen Moment später war dann das Licht angegangen. Jetzt wusste er mit Gewissheit, dass der Raum hinter diesem Fenster Sonea gehörte.
Ein leises Klopfen an der Tür lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Tania kam herein und stellte einen Krug mit Wasser und ein kleines Glas auf den Tisch.
»Lady Indria lässt Euch ausrichten, dass Ihr es nicht auf leeren Magen einnehmen solltet«, bemerkte Tania.
»Ich weiß«, erwiderte Rothen. »Ich habe das Mittel schon früher benutzt.« Er trat vom Fenster zurück und griff nach dem Glas. Das Pulver für den Schlaftrunk war von einem unauffälligen Grau, aber er hatte nicht vergessen, wie abscheulich es schmeckte.