Dies war in der Tat ein Rätsel. Selbst wenn Rothen ihn nicht um Hilfe gebeten hätte, wäre Dannyl vielleicht neugierig genug gewesen, um die Arbeit aus eigenem Interesse fortzusetzen. Jetzt war er fest dazu entschlossen. Schließlich hatte er nicht mehrere Wochen auf See verbracht, um die ganze Sache einfach fallen zu lassen.
Lächelnd faltete er die Briefe zusammen und legte sie zu seinen Notizen über Akkarins Reise.
Mit jedem Schritt, mit dem sie der Residenz des Hohen Lords näher kam, schnürte sich der Kloß in Soneas Kehle fester zusammen. Als sie die Tür erreicht hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hielt inne, holte tief Luft und tippte die Klinke an.
Wie immer öffnete sich die Tür bei der ersten Berührung. Soneas Mund wurde trocken, als sie den Empfangsraum betrat. Akkarin saß in einem der Sessel und wartete auf sie.
»Komm herein, Sonea.«
Sie zwang sich, seiner Aufforderung Folge zu leisten, und verbeugte sich, ohne ihn anzusehen. Dann setzte ihr Herz einen Schlag aus, als er sich erhob und auf sie zukam. Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit der Ferse gegen die Tür hinter ihr stieß.
»Ich habe eine Mahlzeit für uns herrichten lassen.«
Sie hörte ihn kaum und nahm nur die Hand wahr, die sich nach ihr ausstreckte. Seine Finger schlossen sich um den Griff ihres Bücherkoffers, den sie ihm widerstrebend überließ.
»Folge mir«, sagte er und stellte den Koffer auf einen niedrigen Tisch.
Als er sich abgewandt hatte, atmete sie tief durch. Sie hatte kaum den ersten Schritt getan, als sie jäh innehielt, denn er ging auf die Treppe zu, die in den unterirdischen Raum hinabführte. Als hätte Akkarin ihr Zögern gespürt, drehte er sich zu ihr um.
»Komm. Takan wäre sehr verstimmt, wenn das Essen kalt würde.«
Essen. Eine Mahlzeit. Er würde gewiss nicht im Keller essen. Erleichtert sah sie, dass er die Treppe hinaufging, und folgte ihm.
Im oberen Flur angekommen, ging Akkarin an zwei Türen vorbei, bevor er vor einer dritten stehen blieb. Die Tür öffnete sich, und er trat beiseite, um sie vorangehen zu lassen.
Der Tisch in dem Raum vor ihr war festlich gedeckt, wie sie zu ihrem Erstaunen feststellte.
Eine formelle Mahlzeit. Aber warum?
»Nur zu«, murmelte er.
Sonea drehte sich nach ihm um und bemerkte ein Aufblitzen von Erheiterung in seinen Augen, bevor sie durch die Tür trat. Er folgte ihr und deutete auf einen Stuhl.
»Bitte, setz dich.« Er ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken.
Sonea gehorchte, obwohl sie sich fragte, wie sie auch nur einen Bissen hinunterbringen sollte. Als Lord Larkin ihr Akkarins Nachricht übermittelt hatte, hatte sie jeden Appetit verloren. Vielleicht konnte sie behaupten, sie habe keinen Hunger. Vielleicht würde er sie dann gehen lassen.
Sie blickte auf den Tisch hinab und schnappte nach Luft. Alles vor ihr war aus Gold: Das Besteck, die Teller, und sogar die Ränder der Gläser waren damit überzogen. Der Kitzel einer halbvergessenen Versuchung flackerte in ihr auf. Es wäre so einfach gewesen, eine dieser Gabeln in ihrem Gewand verschwinden zu lassen, wenn Akkarin nicht hinsah. Obwohl ihre Finger gewiss einiges von ihrer früheren Geschicklichkeit eingebüßt hatten, hatte sie ihre Fähigkeiten doch ab und zu auf die Probe gestellt, indem sie Rothen einen Streich spielte. Eine einzige dieser wunderschönen Gabeln würde ein Vermögen bringen - oder zumindest genug, um sich über Wasser zu halten, bis sie einen weit entfernten Ort gefunden hatte, an dem sie verschwinden konnte.
Aber ich kann nicht fortgehen. In ihrer hilflosen Ohnmacht überlegte sie kurz, ob es sich lohnen würde, etwas zu stehlen, nur um Akkarin zu verärgern.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Akkarins Diener neben ihr erschienen. Beunruhigt darüber, dass sie ihn nicht hatte kommen hören, beobachtete sie ihn, während er ihr Glas mit Wein füllte und dann um den Tisch herumeilte, um Akkarin den gleichen Dienst zu erweisen.
Da sie ihr Zimmer frühmorgens verließ und erst spät am Abend zurückkehrte, hatte sie den Diener nur einige wenige Male gesehen. Jetzt jedoch, da er sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, begriff sie, dass sie ihn schon früher gesehen hatte, in dem unterirdischen Raum, in dem er Akkarin bei seiner schwarzen Magie geholfen hatte.
»Wie war dein Unterricht heute, Sonea?«
Erschrocken senkte sie den Blick. »Interessant, Hoher Lord.«
»Was hast du heute gelernt?«
»Es ging um magische Baukunst. Um die Entwürfe Lord Lorens.«
»Ah, Lord Loren. Bei deinen Erkundungszügen durch die Flure der Universität hast du dich gewiss mit einigen Eigenheiten seiner Kunst vertraut gemacht.«
Sie hielt den Blick weiter gesenkt. Er wusste also von ihren Streifzügen durch die Universität. Hatte er sie beobachtet? War er ihr womöglich sogar gefolgt? Trotz Lord Larkins Beteuerungen, dass sie keine für Novizen verbotenen Bereiche betreten hatte, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie griff nach ihrem Glas und nippte an dem Wein. Er war süß und stark.
»Wie geht es in deinem Unterricht bei Lord Yikmo voran?«
Sie zuckte zusammen. Was sollte sie darauf antworten? Enttäuschend? Grässlich? Demütigend?
»Du magst die Kriegskünste nicht.«
Es war eine Feststellung. Sonea fand, dass sie nicht zu antworten brauchte. Stattdessen nahm sie noch einen Schluck von dem Wein.
»Die Kriegskünste sind sehr wichtig. Sie zwingen dich dazu, all die Dinge anzuwenden und zu verstehen, die du in den anderen Disziplinen lernst. Einzig im Kampf stößt du an die Grenzen deiner Stärke, deines Wissen und deiner Kontrolle über Magie. Es ist ein Jammer, dass Rothen es versäumt hat, zusätzliche Übungsstunden für dich zu arrangieren, sobald sich herausgestellt hatte, dass du in diesem Teil deiner Ausbildung eine gewisse Schwäche hast.«
Seine Kritik an Rothen verletzte Sonea. »Ich nehme an, er hat keine Notwendigkeit dafür gesehen«, verteidigte sie ihren ehemaligen Mentor. »Wir befinden uns nicht im Krieg, und nichts deutet darauf hin, dass sich daran demnächst etwas ändern wird.«
Akkarin klopfte mit einem seiner langen Finger gegen sein Glas. »Hältst du es für klug, in Friedenszeiten all unsere Kenntnisse über den Krieg über Bord zu werfen?«
Sonea schüttelte den Kopf und wünschte plötzlich, sie hätte es unterlassen, eine eigene Meinung zu äußern. »Nein.«
»Dann sollten wir also unsere Kenntnisse bewahren und dafür Sorge tragen, dass wir nicht aus der Übung kommen?«
»Ja, aber…« Sie hielt inne. Warum streite ich überhaupt mit ihm?
»Aber?«, hakte er nach.
»Es ist nicht notwendig, dass alle Magier die Kriegskünste erlernen.«
»Findest du?«
Sie unterdrückte einen Fluch. Warum machte er sich überhaupt die Mühe, mit ihr zu diskutieren? Es kümmerte ihn nicht, ob sie gute Fortschritte in den Kriegskünsten machte oder nicht. Er wollte sie lediglich aus dem Weg haben.
»Vielleicht hat Rothen diesen Teil deiner Ausbildung vernachlässigt, weil du eine Frau bist.«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
»Vielleicht hatte er Recht. Während der letzten fünf Jahre hat man die wenigen jungen Frauen, die eine Laufbahn als Kriegerinnen in Erwägung gezogen haben, dazu überredet, sich für eine andere Disziplin zu entscheiden. Findest du das richtig?«
Sie runzelte die Stirn. Er wusste, dass sie nicht die Absicht hatte, sich den Kriegern anzuschließen, daher konnte sie seine Frage nur als Versuch werten, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Würde sie, wenn sie sich darauf einließ, auf gefährliches Territorium gelangen? Sollte sie sich weigern, mit ihm zu reden?
Bevor sie zu einer Entscheidung gekommen war, öffnete sich eine Tür hinter Akkarin, und Takan kam mit einem großen Tablett herein. Ein köstlicher Geruch wehte ihr entgegen. Der Diener stellte mehrere Schalen und Platten zwischen sie und Akkarin, dann klemmte er sich das Tablett unter den Arm und begann, jedes einzelne Gericht zu beschreiben.