Soneas Gesicht wurde heiß. »Was machst du hier, Regin?«
Er lächelte. »Oh, ich bin zufällig hier vorbeigekommen.«
»Warum bist du nicht im Unterricht?«
»Warum du nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch war sinnlos. »Warum verschwende ich meine Zeit damit, mit dir zu reden?«
»Weil er immer noch da ist«, sagte Regin mit einem verschlagenen Lächeln. »Und du hast zu große Angst vor ihm, um ihm gegenüberzutreten.«
Sie musterte den Jungen eingehend und erwog mögliche Antworten. Wenn sie es bestritt, würde er ihr nicht glauben, andererseits würde sie, wenn sie gar nichts sagte, seinen Verdacht nur bestätigen.
»Angst?« Sie schnaubte. »Ich habe nicht mehr Angst vor ihm als du.«
»Wirklich?« Er kam einen Schritt näher. »Worauf wartest du dann? Es hat bereits geläutet. Du kommst zu spät, und dein Mentor ist anwesend, um es zu bemerken. Warum zögerst du dann noch? Oder soll ich vielleicht nach ihm rufen und ihn wissen lassen, dass du dich hier versteckst?«
Sie funkelte ihn wütend an. Würde er das tun? Wahrscheinlich, jedenfalls wenn er glaubte, sie damit in Schwierigkeiten bringen zu können. Andererseits würde sie, wenn sie jetzt ging, Regin gegenüber klein beigeben.
Besser klein beigeben, als zu riskieren, dass er nach Akkarin rief. Sie verdrehte die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte den Flur hinunter. Als sie fast am Ende des Ganges war, schritt eine schwarze Gestalt an dessen Einmündung in den Hauptflur vorbei, und sie erstarrte.
Zu ihrer Erleichterung entdeckte Akkarin sie nicht. Er ging weiter, und seine Schritte verklangen, während er seinen Weg fortsetzte. Hinter ihr hörte sie ein zufriedenes Kichern. Sie drehte sich um und sah, dass Regin sie lächelnd beobachtete.
Sie wandte sich ab und trat in den Flur. Warum interessierte er sich so dafür, ob sie Angst vor Akkarin hatte oder nicht? Sie schüttelte den Kopf. Natürlich würde ihn jeder Hinweis darauf, dass sie unglücklich war, ungemein freuen.
Aber warum war er nicht im Unterricht gewesen? Welchen Grund konnte er haben, sich in diesem Teil der Universität aufzuhalten?
Er konnte ihr doch nicht gefolgt sein…?
Ein kalter Windschwall begrüßte Lorlen, als er die Tür zu seinem Büro öffnete. Der Luftzug fuhr unter einige Nachrichten, die man ihm unter der Tür hindurchgeschoben hatte, und wehte sie hinaus in den Flur. Da es sich um eine beträchtliche Anzahl von Schreiben handelte, stieß Lorlen einen Seufzer aus und ließ sie mit ein klein wenig Magie in den Raum zurückgleiten. Dann schloss er die Tür und ging mit langen Schritten zum Schreibtisch hinüber.
»Du bist heute Morgen nicht gerade in bester Stimmung.«
Beim Klang der Stimme zuckte Lorlen zusammen, dann hielt er nach dem Besitzer der Stimme Ausschau. Akkarin saß auf einem der Stühle, und seine dunklen Augen reflektierten das Licht, das durch die Fenster fiel.
Wie ist er hier hereingekommen? Lorlen starrte Akkarin an und kämpfte mit der Versuchung, eine Erklärung zu verlangen. Aber die Versuchung verebbte, als der Hohe Lord seinen Blick erwiderte. Lorlen wandte sich ab und konzentrierte sich auf die verschiedenen Nachrichten, die auf dem Boden verstreut lagen. Er ließ die Schriftstücke durch den Raum in seine Hand flattern, dann ging er die einzelnen Papiere durch.
»Was liegt dir auf der Seele, mein Freund?«
Lorlen zuckte die Achseln. »Peakin und Davin gehen einander noch immer bei jeder Gelegenheit an die Kehle. Garrel möchte, dass ich Regin erlaube, seinen Unterricht bei Balkan wiederaufzunehmen, und Jerrik hat einmal mehr Tyas Bitte um einen Assistenten abgelehnt.«
»Alles Dinge, die zu regeln dir nicht schwer fallen dürften, Administrator.«
Lorlen schnaubte, als er die Verwendung seines Titels hörte. »Wie soll ich in diesen Angelegenheiten verfahren, Hoher Lord?«, fragte er spöttisch.
Akkarin kicherte. »Du kennst unsere kleine Familie besser als ich, Lorlen.« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Gib Garrel ein Ja, Lady Tya ein Nein, und was Davin betrifft… seine Idee, den Ausguck wieder aufzubauen, damit er das Wetter beobachten kann, ist interessant. Die Gilde hat schon seit langer Zeit nichts mehr gebaut, und ein Aussichtsturm hat militärischen Wert - was Hauptmann Arin sehr zupass kommen würde. Seit er zum militärischen Ratgeber des Königs ernannt worden ist, liegt er mir ständig in den Ohren, ich solle die Äußere Stadtmauer wieder aufbauen lassen.«
Lorlen runzelte die Stirn. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das würde ein sehr kostspieliges und langwieriges Projekt werden. Wir sollten unsere Zeit besser…« Lorlen stutzte. »Garrel ein Ja geben? Würde damit nicht Regins Strafe für seinen Angriff auf Sonea um sechs Monate verkürzt werden?«
Akkarin zuckte die Achseln. »Glaubst du wirklich, dass er Sonea jetzt noch Ärger machen wird? Der Junge hat Talent. Es wäre eine Schande, das zu vergeuden.«
Lorlen nickte langsam. »Es würde natürlich… die Schmach, dass seine Gegnerin vom Hohen Lord bevorzugt wird, ein wenig mildern.«
»Balkan würde dem zustimmen.«
Lorlen legte die verschiedenen Botschaften auf seinen Tisch und nahm dann auf seinem Stuhl Platz. »Aber das ist nicht der Grund, warum du mich aufgesucht hast, nicht wahr?«
Akkarin trommelte mit seinen langen Fingern auf die Armlehne seines Stuhls. »Nein.« In seinen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, Rothen aus Soneas Stundenplan herauszunehmen, ohne damit Verdacht zu erregen?«
Lorlen seufzte. »Muss das sein?«
Akkarins Miene verdüsterte sich. »Ja. Es muss sein.«
Mit schleppenden Schritten ging Sonea den Flur hinunter. Der Vormittagsunterricht bei Lord Yikmo war eine Katastrophe gewesen. Außerdem war sie nach ihren Begegnungen mit Rothen und Regin zu gereizt und zu geistesabwesend gewesen, um sich in Heilkunde die Namen der Pflanzen einzuprägen, und zu müde, um die abendliche Mathematikstunde zu begreifen.
Alles in allem war es ein Tag gewesen, dessen Ende sie nur herbeisehnen konnte.
Bei der Erinnerung an Regins selbstgefällige Miene fragte sie sich einmal mehr, welche Schlussfolgerungen er gezogen haben mochte. Vielleicht gefiel ihm einfach die Vorstellung, dass sie mit ihrem neuen Mentor nicht glücklich war.
Na und?, dachte sie. Solange er mich in Ruhe lässt, ist es mir egal, was er denkt.
Aber würde er sie in Ruhe lassen? Wenn er jetzt glaubte, ihre Angst vor Akkarin sei zu groß, um ihrem Mentor von Regins Schikanen zu erzählen, würde womöglich alles wieder von vorn anfangen. Andererseits würde Regin Acht geben müssen, dass kein Magier in der Nähe war, wenn er ihr seine bösen Streiche spielte…
Eine verschwommene Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds war die einzige Warnung. Sie hatte keine Zeit auszuweichen. Ein Arm schlang sich um ihren Hals, der andere um ihre Taille. Durch den Schwung ihres Angreifers wurden sie beide nach vorn geschleudert, aber der Griff um ihren Hals lockerte sich nicht.
Sie wehrte sich nach Kräften, begriff aber schnell, dass der Angreifer zu stark für sie war. Plötzlich fiel ihr ein Trick ein, den Cery ihr einmal beigebracht hatte. Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie beinahe Cerys Stimme hören konnte…
Wenn jemand dich auf diese Weise von hinten packt, musst du die Beine spreizen - so ist es richtig - dann machst du Folgendes…
Der Mann hinter ihr verlor das Gleichgewicht, und Sonea stieß ein kurzes, befriedigtes Lachen aus, als er zu Boden fiel. Er landete jedoch nicht auf dem Gesicht, sondern rollte sich geschickt zur Seite ab und sprang wieder auf die Füße. Erschrocken wich sie vor ihm zurück und tastete nach einem Messer, das nicht da war… Dann hielt sie jäh inne und starrte ihren Angreifer überrascht an.
Lord Yikmo kam ihr seltsam fremd vor in den gewöhnlichen Kleidern, die er trug. Ein einfaches, ärmelloses Hemd entblößte überraschend muskulöse Schultern. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte.
»Das dachte ich mir.«