»Es wäre mir eine Ehre, Bel Arralade.«
Nachdem er einige Minuten in seiner Nische sitzen geblieben war, stellte er fest, welche Gefahren das Alleinsein barg. Ein Trio kleiner Mädchen umzingelte ihn, und er unterhielt sie mit Illusionen, bis ihre Eltern ihn retteten. Er stand auf und wollte gerade zu Errend hinübergehen, als er seinen Namen hörte.
Tayend kam auf ihn zu, den muskulösen jungen Mann an seiner Seite.
»Tayend von Tremmelin.«
»Botschafter Dannyl. Dies ist Velend von Genard. Ein Freund«, sagte Tayend.
Die Mundwinkel des jungen Mannes zuckten, aber das Lächeln drang nicht bis zu seinen Augen vor. Steif und mit sichtlichem Widerstreben verneigte er sich.
»Tayend hat mir von Euren Reisen erzählt«, sagte Velend. »Obwohl ich aufgrund seiner Beschreibungen den Eindruck gewonnen habe, dass Lonmar keineswegs nach meinem Geschmack wäre.«
»Es ist ein heißes und beeindruckendes Land«, erwiderte Dannyl. »Man würde sich sicher an das Klima gewöhnen können, wenn man lange genug dort bliebe. Seid Ihr ebenfalls ein Gelehrter?«
»Nein«, antwortete der Mann. »Mein Interesse gilt eher dem Schwertkampf und der Waffenkunst. Übt Ihr Euch gelegentlich in dieser Kunst, Botschafter?«
»Nein«, erwiderte Dannyl. »Jungen Männern, die der Gilde beitreten, bleibt nur wenig Zeit für dergleichen.« Schwertkampf also. Er fragte sich, ob das der Grund war, warum er eine sofortige Abneigung gegen den Mann entwickelt hatte. Erinnerte Velend ihn vielleicht allzu sehr an Fergun, der ebenfalls ein Liebhaber scharfer Waffen war?
»Ich habe einige Bücher entdeckt, die Euch interessieren könnten, Botschafter«, warf Tayend in sachlichem Tonfall ein. Während Tayend das Alter und den allgemeinen Inhalt der Bücher zu beschreiben begann, bemerkte Dannyl, dass Velend ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und seine Blicke schweifen ließ. Zu guter Letzt unterbrach er Tayend.
»Entschuldigt mich bitte, Tayend, Botschafter Dannyl. Ich habe jemanden gesehen, mit dem ich sprechen muss.«
Als er davonging, lächelte Tayend hinterhältig. »Ich wusste, dass es nicht lange dauern würde, ihn loszuwerden.« Er hielt kurz inne, als ein Ehepaar dicht an ihnen vorbeiging, und verfiel wieder in einen geschäftsmäßigen Tonfall. »Wir haben uns bisher nur alte Bücher angesehen, deshalb dachte ich, es wäre vielleicht sinnvoll, sich auch einmal neueren Schriften zuzuwenden. Wenn ein Dem stirbt, schickt seine Familie der Bibliothek bisweilen Tagebücher oder Gästebücher aus seinem Besitz zu. In dem Tagebuch eines Dem habe ich einige interessante Hinweise auf… nun, ich will jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber alles weist darauf hin, dass wir in den privaten Bibliotheken einiger der anderen Dems vielleicht weitere Informationen finden könnten. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«
»Leben einige dieser Dems vielleicht in den Bergen?«, erkundigte sich Dannyl.
Tayends Augen weiteten sich. »Der eine oder andere. Warum fragt Ihr?«
Dannyl senkte die Stimme. »Unsere Gastgeberin hat gerade in Erinnerungen an einen bestimmten jungen Magier geschwelgt, der vor zehn Jahren an ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen hat.«
»Ah.«
»Ja. Ah.« Als Dannyl Velend auf sie zukommen sah, runzelte er die Stirn. »Dein Freund kommt zurück.«
»Er ist eigentlich kein Freund«, korrigierte ihn Tayend. »Eher der Freund eines Freundes. Er hat mich zu dem Fest mitgenommen.«
Velends Gang hatte etwas von der fließenden Anmut eines Limeks - des räuberischen Hundes, der den Bauern Ungemach bereitete und der bisweilen in den Bergen Reisende tötete. Zu Dannyls Erleichterung blieb der Mann einige Schritte entfernt von ihnen stehen, um mit einem anderen Höfling zu sprechen.
»Ich sollte dich warnen«, bemerkte er leise. »Bel Arralade könnte auf den Gedanken kommen, dir eine junge Dame zu suchen.«
»Das bezweifle ich. Dafür kennt sie mich zu gut.«
Dannyl zog die Brauen zusammen. »Warum hat sie dann die Rede auf dieses Thema gebracht?«
»Wahrscheinlich wollte sie dich auf die Probe stellen, um herauszufinden, wie viel du über mich weißt. Was hast du gesagt?«
»Dass ich dich nicht gut genug kenne, um beurteilen zu können, ob du eine bestimmte Dame im Sinn hast.«
Tayend zog die Augenbrauen in die Höhe. »Hm. Würde es dir etwas ausmachen, wenn es eine solche Frau gäbe?«
»Ob es mir etwas ausmachen würde?« Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein… aber es käme vielleicht darauf an, um wen es sich handelt. Darf ich dann davon ausgehen, dass es jemanden gibt?«
»Möglicherweise.« Tayend lächelte schief. »Aber ich werde es dir nicht verraten… noch nicht.«
Erheitert blickte Dannyl über Tayends Schulter zu Velend hinüber. Es war doch gewiss nicht möglich… Aus den Augenwinkeln sah er, dass ihm jemand zuwinkte. Als er Botschafter Errend erkannte, nickte Dannyl dem Mann zu. »Botschafter Errend möchte mich sprechen.«
»Und mich wird man bezichtigen, ein Langweiler zu sein«, erwiderte Tayend, »wenn ich den ganzen Abend damit zubringe, über meine Arbeit zu reden. Werden wir uns bald in der Bibliothek sehen?«
»In einigen Tagen. Ich denke, wir werden vielleicht eine weitere Reise planen müssen.«
Sonea strich mit dem Finger über die Buchrücken. Sie fand eine Lücke und schob den dort fehlenden Band hinein. Das andere Buch, das sie in der Hand hielt, war dick und schwer. Es gehörte auf die andere Seite der Bibliothek, daher schob sie es sich unter den Arm und durchquerte den Raum.
»Sonea!«
Sonea machte kehrt und ging in den vorderen Teil der Bibliothek hinüber, wo Lady Tya hinter einem kleinen Schreibtisch saß.
»Ihr habt mich gerufen, Mylady?«
»Es ist soeben eine Nachricht für dich gebracht worden«, erwiderte die Bibliothekarin. »Der Hohe Lord möchte dich in Lord Yikmos Übungsraum sehen.«
Sonea nickte. Ihr Mund war plötzlich trocken geworden. Was wollte Akkarin? Eine Demonstration ihrer Fähigkeiten?
»Dann mache ich mich wohl besser auf den Weg. Soll ich morgen Abend wiederkommen?«
Lady Tya lächelte. »Du bist ein Traum, der wahr geworden ist, Sonea. Niemand macht sich eine Vorstellung davon, wie viel Arbeit es hier gibt. Aber du musst doch sicher lernen?«
»Ein oder zwei Stunden kann ich durchaus erübrigen - außerdem erfahre ich auf diese Weise, welche Bücher hier sind und wo ich sie finden kann.«
Die Bibliothekarin nickte. »Wenn du die Zeit dafür erübrigen kannst, bin ich für deine Hilfe dankbar.« Dann drohte sie Sonea spielerisch mit dem Finger. »Aber dass mir niemand behauptet, ich würde den Schützling des Hohen Lords vom Lernen abhalten.«
»Das wird schon nicht passieren.« Sonea legte das Buch beiseite, griff nach ihrem Köfferchen und öffnete die Tür. »Gute Nacht, Lady Tya.«
Die Flure der Universität lagen still und verlassen da. Sonea machte sich auf den Weg zu Lord Yikmos Übungsraum.
Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs ihre Angst. Lord Yikmo unterrichtete nur sehr ungern am Abend. Der Magier stammte aus Vin, und die Gründe für dieses Verhalten hatten etwas mit der Religion seines Heimatlandes zu tun. Eine Bitte des Hohen Lords konnte man jedoch nicht abschlagen.
Trotzdem war es eigentlich schon viel zu spät für eine Unterrichtsstunde oder eine Demonstration. Vielleicht hatte Akkarin einen anderen Grund, warum er sie kommen ließ. Vielleicht würde Yikmo nicht einmal anwesend sein…
Plötzlich trat ein Novize aus einem Seitengang, und Sonea zuckte zusammen. Als sie versuchte, ihm auszuweichen, stellte er sich ihr in den Weg, und drei weitere Novizen tauchten neben ihm auf.
»Hallo, Sonea. Hast du meine Nachricht bekommen?«
Mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend blickte sie auf. Es war Regin, der an der Spitze einer kleinen Gruppe von Novizen stand. Sie erkannte einige ihrer ehemaligen Klassenkameraden, aber die übrigen waren ihr mehr oder weniger fremd. Es waren ältere Novizen, die sie jetzt mit kaltem Blick musterten. Ein paar der Bemerkungen, die sie am ersten Unterrichtstag nach den Ferien gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Wenn so viele Novizen der Meinung waren, dass sie die Aufmerksamkeit des Hohen Lords nicht verdient habe, war es für Regin gewiss nicht schwer gewesen, einige von ihnen um sich zu scharen.