Regins höhnische Worte gingen ihr durch den Sinn. Es bedurfte nur eines kurzen Gedankenrufs, eines Bildes von Regin und seinen Komplizen…
Nein. Nichts, was Regin ihr anzutun vermochte, konnte so schrecklich sein wie die Notwendigkeit, Akkarin um Hilfe zu bitten.
Dann Rothen!
Du darfst nicht mit ihm reden.
Es muss doch irgendjemanden geben!
Aber ein Hilferuf würde von Akkarin und anderen Magiern gehört werden. Schon bald würde die ganze Gilde wissen, dass Akkarins Novizin erschöpft und besiegt in den Fluren der Universität aufgefunden worden war.
Es gab nichts, was sie tun konnte.
Sie rollte sich zu einem Ball zusammen und wartete darauf, dass die Novizen den letzten Rest ihrer Kraft verbrauchten oder das Interesse an ihrem Spiel verloren und sie in Ruhe ließen.
Es war weit nach Mitternacht, als Lorlen mit dem letzten Brief fertig wurde. Er stand auf, streckte sich und ging zur Tür, wobei er seine Umgebung kaum wahrnahm, während er automatisch das magische Schloss vorlegte. Als er sich umdrehte, um den Flur hinunterzugehen, hörte er ein Geräusch aus der Eingangshalle der Universität.
Er blieb kurz stehen und überlegte, ob er der Sache auf den Grund gehen sollte oder nicht. Es war ein leises Geräusch gewesen, vielleicht ein Blatt, das durch die Tür hereingeweht worden war. Er hatte sich gerade dazu entschieden, es zu ignorieren, als er das Geräusch von neuem hörte.
Stirnrunzelnd trat er in die Eingangshalle. Eine Bewegung lenkte seinen Blick auf eine der gewaltigen Türen. Irgendetwas glitt an dem alten Holz entlang. Er machte einen Schritt nach vorn, dann sog er scharf die Luft ein.
Sonea lehnte an der Tür, als würde sie ohne deren Halt in sich zusammensinken. Sie machte einen zaghaften Schritt, dann blieb sie taumelnd am oberen Ende der Treppe stehen. Lorlen lief auf sie zu und griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Sie sah ihn an, überrascht und offensichtlich zutiefst entsetzt.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte er.
»Nichts, Mylord«, sagte sie.
»Nichts? Du bist vollkommen erschöpft.«
Sie zuckte die Achseln, und es war unübersehbar, dass selbst diese kleine Bewegung sie große Anstrengung kostete. Sie hatte all ihre Kraft verloren. Als hätte… als hätte man ihre Magie aus ihr herausgezogen…
»Was hat er dir angetan?«, stieß Lorlen heiser hervor.
Sie runzelte die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf. Plötzlich gaben die Knie unter ihr nach und sie sank auf die Treppenstufen. Lorlen setzte sich neben sie und ließ ihren Arm los.
»Es ist nicht das, was Ihr denkt«, erklärte sie, dann ließ sie den Oberkörper sinken und legte den Kopf auf die Knie. »Nicht, wer Ihr denkt. Nicht er.« Sie seufzte und rieb sich das Gesicht. »Ich war noch nie so müde.«
»Aber was hat dich dann in diesen Zustand versetzt?«
Sonea ließ die Schultern sinken, aber sie antwortete nicht.
»War es eine Aufgabe, die ein Lehrer dir gegeben hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hast du etwas versucht, das mehr Kraft gekostet hat, als du erwartet hattest?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Lorlen dachte darüber nach, auf welche andere Weise ihre Kräfte derart erschöpft worden sein könnten. Er erinnerte sich an die wenigen Gelegenheiten, bei denen er seine gesamte Kraft verbraucht hatte. Er musste viele Jahre zurückdenken, zurück zu seiner Zeit an der Universität. An die Kämpfe mit Akkarin in der Arena. Aber sie hatte gesagt, es sei nicht Akkarin gewesen.
Dann fiel es ihm wieder ein. Während seiner Ausbildung hatte der Lehrer einmal mehrere Novizen gegen jeden einzelnen Schüler der Klasse antreten lassen. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen er besiegt worden war.
Aber es war zu spät für Unterrichtsstunden. Warum sollte sie gegen andere Novizen kämpfen? Lorlens Miene verdüsterte sich, als plötzlich ein Name in seinen Gedanken auftauchte. Regin. Der Junge hatte wahrscheinlich seine Anhänger um sich geschart und Sonea irgendwo aufgelauert. Es war verwegen und riskant. Wenn Sonea Akkarin davon erzählte …
Aber sie würde es nicht tun. Lorlen sah Sonea an, und das Herz tat ihm weh. Gleichzeitig stieg ein unerwarteter Stolz in ihm auf.
»Es war Regin, nicht wahr?«
Ihre Lider öffneten sich flatternd. Als er die Wachsamkeit in ihren Augen sah, nickte er.
»Keine Angst, ich werde es niemandem erzählen, es sei denn, du willst es so. Wenn es dir recht ist, werde ich Akkarin wissen lassen, was hier vorgeht.« Falls er nicht gerade lauscht und es ohnehin schon weiß. Er blickte auf den Ring hinab, dann sah er hastig wieder weg.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht. Bitte.«
Natürlich. Sie würde nicht wollen, dass Akkarin davon erfuhr.
»Ich habe nicht damit gerechnet«, fügte sie hinzu. »Ich werde mich in Zukunft von ihnen fern halten.«
Lorlen nickte langsam. »Nun, wenn es dir nicht gelingt, dann wisse, dass du mich jederzeit rufen kannst.«
Ein schiefes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, dann holte sie tief Luft und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Warte.« Er griff nach ihrer Hand. »Hier«, sagte er. »Das wird dir helfen.«
Er sandte einen sanften Strom heilender Energie durch seine Hand in ihren Körper. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Wirkung spürte. Es würde ihre Kraft nicht erneuern, aber es linderte die körperliche Erschöpfung. Ihre Schultern strafften sich, und ihr Gesicht verlor ein wenig von seiner fahlen Blässe.
»Vielen Dank«, sagte sie. Dann stand sie auf und blickte zu der Residenz des Hohen Lords hinüber, und ihre Schultern sanken wieder herab.
»Es wird nicht für immer so sein, Sonea«, sagte er sanft.
Sie nickte. »Gute Nacht, Administrator.«
»Gute Nacht, Sonea.«
Während sie auf die Residenz zuging, sah Lorlen ihr nach und hoffte, dass seine Worte sich als wahr erweisen würden, auch wenn er sich gleichzeitig fragte, wie das möglich sein sollte.
27
Nützliche Informationen
Sonea setzte sich den Karton mit Büchern auf die Hüfte, als Lady Tya die Tür zur Magierbibliothek öffnete und hineinging. Sie lud ihre Last auf Tyas Schreibtisch ab, der neben dem von Lord Jullen stand, und sah sich in dem dunklen Raum um.
»Ich bin seit Wochen nicht mehr hier gewesen.«
Tya machte sich daran, die Bücher aus den Kartons zu holen. »Warum nicht?«
»›Zutritt für Novizen nur in Begleitung eines Magiers‹.«
Die Bibliothekarin kicherte. »Ich kann mir deinen Mentor nicht gut vorstellen, wie er auf dich wartet, während du lernst. Aber du brauchst ihn nicht zu bitten, dich zu begleiten. Du darfst inzwischen fast überall hingehen, wo du hingehen willst.«
Sonea blinzelte überrascht. »Sogar hierher?«
»Ja, aber du musst mir trotzdem beim Tragen helfen.« Tya hielt ihr augenzwinkernd einen Stapel Bücher hin. Sonea nahm sie entgegen, dann folgte sie der Bibliothekarin durch eine kleine Tür in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatte. In der Mitte des Raums standen weitere Regale, aber die Wände waren gesäumt von Schränken und Truhen.
»Ist das ein Magazin?«
»Ja.« Tya räumte die Bücher in die Regale. »Das sind Duplikate begehrter Bände aus der Novizenbibliothek, die hier für den Fall bereitstehen, dass die alten Exemplare auseinander fallen. Die Originale werden in den Truhen dort drüben aufbewahrt.«
Ein besonders großer, schwerer Schrank, dessen Glastüren mit Draht gesichert waren, erregte Soneas Aufmerksamkeit.
»Was ist da drin?«
Ein Leuchten trat in Tyas Augen. »Originale der ältesten und wertvollsten Bücher und Karten der Gilde. Sie sind zu brüchig, um sie zu benutzen. Von einigen dieser Werke habe ich Kopien gesehen.«
Sonea spähte durch die Glasscheibe. »Habt Ihr die Originale je zu Gesicht bekommen?«