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Tya trat neben Sonea. »Nein, die Türen sind durch Magie verschlossen. Als Jullen noch ein junger Mann war, hat sein Vorgänger einmal die Türen für ihn geöffnet. Jullen hat sie mir bisher noch nie gezeigt, aber er hat mir erzählt, dass auch eine Karte von den Tunneln unter der Universität dabei sei.«

»Tunnel?« Sonea dachte an den Tag, an dem Fergun ihr die Augen verbunden und sie zu ihrem Freund Cery geführt hatte, der unter der Universität gefangen gewesen war.

»Ja. Das Gelände der Gilde ist angeblich durchzogen von solchen Tunneln. Heutzutage benutzt sie niemand mehr - obwohl ich vermute, dass dein Mentor das tut. Es ist allgemein bekannt, dass er die Gewohnheit hat, an unerwarteten Orten zu erscheinen oder zu verschwinden.«

»Und da drin ist eine Karte dieser Tunnel?«

»Das hat Jullen jedenfalls behauptet, aber ich habe den Verdacht, dass er mich nur aufziehen wollte.«

Sonea sah Tya von der Seite an. »Euch aufziehen?«

Das Gesicht der Bibliothekarin rötete sich, und sie wandte sich ab. »Das ist jetzt viele Jahre her; damals waren wir beide viel jünger.«

»Es ist schwer, sich vorzustellen, dass Lord Jullen jemals jung war«, bemerkte Sonea, während sie Tya zum anderen Ende des Raums folgte. »Er ist so streng und unnahbar.«

Tya blieb vor einer Truhe stehen und räumte die Bücher ein, die Sonea für sie getragen hatte. »Die Menschen verändern sich«, sagte sie. »Er ist zu beeindruckt von seiner eigenen Bedeutung - als sei ein Bibliothekar genauso wichtig wie zum Beispiel das Oberhaupt der Krieger.«

Sonea lachte leise. »Rektor Jerrik würde jetzt sagen, dass Wissen wichtiger ist als alles andere, daher seid Ihr als Hüter des Wissens der Gilde wichtiger als die Höheren Magier.«

Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel der Bibliothekarin. »Ich glaube, ich weiß, warum der Hohe Lord dich gewählt hat, Sonea. Und jetzt hol mir die übrigen Bücher von Jullens Schreibtisch.«

Kaum hatte er die Tür zu seiner Wohnung geschlossen, eilte Rothen zu einem Sessel hinüber und zog den Brief aus seiner Robe. Ein Bote hatte ihn zwischen zwei Unterrichtsstunden gebracht, und obwohl ihn den ganzen Tag über die Neugier gequält hatte, hatte er es nicht gewagt, den Brief in der Universität zu öffnen.

Es waren sieben Wochen vergangen, seit er Dannyl geschrieben hatte. Sieben Wochen, seit Akkarin ihm Sonea weggenommen hatte. In all dieser Zeit hatte er nur ein einziges Mal mit ihr gesprochen. Als ein Novize aus einer einflussreichen Familie Rothen um Privatunterricht gebeten hatte, hatte er sich geschmeichelt gefühlt; als sich dann herausstellte, dass dieser Novize nur während der Zeit zur Verfügung stand, in der Rothen Soneas Klasse unterrichtete, hatte er Verdacht geschöpft, dass andere Gründe hinter dieser Bitte standen. Es wäre jedoch unhöflich gewesen abzulehnen, außerdem fielen ihm, abgesehen von der Wahrheit, keine triftigen Gründe dafür ein.

Rothen wog den Brief in der Hand und machte sich auf eine Enttäuschung gefasst. Selbst wenn Dannyl bereit war, ihm zu helfen, bestand nur eine winzige Hoffnung, dass er irgendetwas herausfinden würde, das zu Akkarins Sturz führen könnte. Aber der Brief war groß und überraschend dick. Mit zitternden Händen brach Rothen schließlich das Siegel. Als mehrere Bogen Papier aus dem Umschlag fielen, griff er nach dem ersten und begann zu lesen.

An Rothen.

Es war eine angenehme Überraschung, von dir zu hören, alter Freund. Ich bin tatsächlich viel auf Reisen gewesen und habe Menschen verschiedenster Rassen, Kulturen und Religionen kennen gelernt. Diese Erfahrung war sowohl bildend als auch erhellend, und wenn ich im nächsten Sommer zurückkehre, werde ich viel zu erzählen haben.

Deine Neuigkeiten über Sonea sind bemerkenswert. Für sie ist das natürlich ein Glücksfall, obwohl ich deinen Kummer darüber verstehe, sie als Novizin verloren zu haben. Ohne deine Bemühungen und die harte Arbeit, die du geleistet hast, hätte sie gewiss erst gar nicht die Aufmerksamkeit des Hohen Lords erregt. Ich denke allerdings, dass ihre neue Position auch ihre Probleme mit einem gewissen Novizen gelöst haben dürfte.

Ich war enttäuscht zu hören, dass ich Dorriens Besuch versäumt habe. Grüße ihn bitte ganz herzlich von mir.

Mit diesem Brief schicke ich dir die Informationen, die ich in der Großen Bibliothek und anhand weniger anderer Quellen zusammengetragen habe. Ich hoffe, dass sie dir weiterhelfen. Falls meine nächste Reise erfolgreich sein sollte, dürften wir noch einige weitere Ergänzungen für unser Buch in Händen halten.

Dein Freund Dannyl.

Mit wachsendem Erstaunen blätterte Rothen nun die übrigen Papiere durch.

»All das hast du gesehen?«, murmelte er. »Den Prächtigen Tempel? Die Gräber der Weißen Tränen!« Er stieß ein leises Lachen aus. »Nur wenige andere Quellen, was, Dannyl?«

Er blätterte zur ersten Seite zurück und vertiefte sich in Dannyls Bericht.

Es war bereits spät, als Sonea an diesem Abend aus der Bibliothek kam. In den letzten zwei Wochen war es ihr gelungen, Regin aus dem Weg zu gehen, indem sie Tya aus der Universität begleitete oder lange Umwege nahm. Wann immer sie den Hauptflur betreten hatte, hatte ein Novize dort gewartet. Sie wagten es allerdings nicht, sie im Hauptflur anzugreifen. Das Risiko, dass ein Magier sie entdecken könnte, war zu hoch.

Als Sonea nun in den nächsten Korridor einbog, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass sich niemand dort aufhielt. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, drang jedoch ein leises Geräusch an ihre Ohren, ein halb ersticktes Kichern. Sonea blieb stehen. Entsetzt stellte sie fest, dass Regins Bande ihr den Weg zum Hauptkorridor verstellt hatte. Sie wussten jedoch nicht, dass sie sie gehört hatte. Wenn sie zurücklief und es ihr gelang, durch einen Portalraum in die inneren Gänge zu kommen, konnte sie ihnen aus dem Weg gehen.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte los.

»Lauf, Sonea, lauf!«, erklang plötzlich Regins Stimme. Schritte und Gelächter hallten im Flur wider.

Sie jagte um eine Ecke, dann um die nächste, bis eine vertraute Tür vor ihr erschien und sie hindurchschlüpfte. Ohne abzuwarten, ob die anderen ihr folgten, lief sie durch den Portalraum hindurch in den dahinterliegenden Tunnel. Hinter sich hörte sie das gedämpfte Klicken einer Tür.

Nachdem sie mehrmals die Richtung gewechselt hatte, erreichte sie einen anderen Ausgang. Ein Novize stand davor, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Sonea sah ihn entsetzt an. Sie wussten jetzt also über das geheime System der inneren Gänge Bescheid. Das Grinsen des Novizen wurde noch breiter. Offensichtlich hatte Regin ihn hier postiert, um auf sie zu warten. Er war jedoch allein und leicht zu überwältigen.

Sein Grinsen verschwand, als er ihren Gesichtsausdruck sah, und er trat hastig beiseite. Sonea schlüpfte durch die Tür, durchquerte den dahinterliegenden Raum und kehrte in die allgemein zugänglichen Flure zurück. Als sich irgendwo hinter ihr eine Tür öffnete, begann sie zu rennen. Es war jetzt nicht mehr weit, bis sie auf den Hauptflur stoßen würde. Sie rannte um eine Ecke, dann um die nächste - und dann mitten hinein in einen Regen aus rotem Feuer.

Sie hatte bisher keinen Schild hochgezogen, weil sie hoffte, ihre Kräfte so lange wie möglich schonen zu können. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Körper, und alles um sie herum wurde schwarz. Als sie wieder klar sehen konnte, lag sie auf dem Boden, und ihre Schulter schmerzte. Ein weiterer Feuerstrahl versengte sie und machte es ihr unmöglich, irgendetwas anderes zu tun, als die Zähne zusammenzubeißen. Nachdem der Schmerz verebbt war, gelang es ihr jedoch, einen Schild um sich herum zu weben und sich auf die Füße zu ziehen.

Regin und vier andere Novizen standen hinter ihr. Drei weitere versperrten ihr den Weg zum Hauptflur. Dann erschienen noch zwei Novizen und schließlich drei weitere. Es waren insgesamt dreizehn Novizen. Mehr als zuvor. Sie schluckte.