»Also, wenn er in Sachaka war, warum hat er diese Tatsache dann für sich behalten?« Tayend hielt inne und dachte nach. »Vielleicht hat er sich all diese Jahre in Sachaka aufgehalten und Nachforschungen angestellt, ohne irgendetwas zu entdecken, und es war ihm zu peinlich, das zuzugeben. Oder er hat sich die ganze Zeit über dem Müßiggang hingegeben und wollte das nicht eingestehen - oder er hat etwas getan, das die Gilde nicht gutheißen würde. Vielleicht hat er sich in eine junge Sachakanerin verliebt, sie geheiratet und ihr geschworen, niemals in seine Heimat zurückzukehren, nur dass sie dann gestorben ist oder ihn verlassen hat, und er…«
»Wir wollen es mit der Fantasie doch nicht übertreiben, oder, Tayend.«
Tayend grinste. »Vielleicht hat er sich ja auch in einen Knaben aus Sachaka verliebt, und sein Treiben wurde entdeckt, und man hat ihn des Landes verwiesen.«
»Es ist der Hohe Lord, von dem du sprichst, Tayend von Tremmelin«, sagte Dannyl streng.
»Findest du es anstößig, dass ich eine solche Möglichkeit in Betracht ziehe?« In der Stimme des Gelehrten schwang ein Hauch von Trotz mit.
Dannyl sah Tayend fest in die Augen. »Ich mag ein wenig in seiner Vergangenheit herumstöbern, um meine Forschungen voranzutreiben, Tayend, aber das bedeutet nicht, dass ich keinen Respekt vor dem Mann oder seiner Position hätte. Wenn Gerüchte ihn oder sein Amt in Verruf bringen sollten, würde ich dagegen einschreiten.«
»Ich verstehe.« Tayend war schlagartig ernst geworden.
»Aber wie dem auch sei«, sprach Dannyl weiter. »Was du da andeutest, ist unmöglich.«
Tayend lächelte hinterhältig. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Weil Akkarin ein mächtiger Magier ist. Die Sachakaner sollen ihn des Landes verwiesen haben? Ha! Unwahrscheinlich!«
Der Gelehrte kicherte und schüttelte den Kopf. Eine Weile blieb er still, dann runzelte er die Stirn. »Was würden wir tun, wenn wir erfahren sollten, dass Akkarin tatsächlich nach Sachaka gereist ist? Würden wir dann ebenfalls dorthin gehen?«
»Hmm.« Dannyl blickte sich um. Capia war hinter den gewellten Hügeln verschwunden. »Das hängt davon ab, wie lange ich brauche, um meinen Pflichten als Botschafter der Gilde gerecht zu werden.«
Vor einiger Zeit hatte Errend ihm stöhnend erzählt, dass er alle zwei Jahre das Land bereisen müsse. Dannyl hatte sofort vorgeschlagen, ihm diese Aufgabe abzunehmen, denn sie bot ihm eine ideale Möglichkeit, Capia zu verlassen und seine Nachforschungen fortzusetzen, ohne Verdacht zu erregen. Errend hatte sein Angebot begeistert angenommen.
Zu Dannyls Entsetzen hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Reise durch das ganze Land führen würde und dass er etliche Wochen an Orten würde verbringen müssen, an denen es keine privaten Bibliotheken gab. Außerdem war die Reise ursprünglich erst für den Sommer geplant gewesen. Dannyl hatte Errend überredet, einen früheren Termin festzusetzen, aber es war unmöglich, einzelne Etappen seiner Reise auszulassen.
»Also, was genau wirst du tun?«, fragte Tayend.
»Ich werde mich den Dems auf dem Lande vorstellen, Magier aufsuchen und magisches Potenzial bei den Kindern bestätigen, die der König in die Gilde schicken will. Ich hoffe, dass diese Dinge dich nicht allzu sehr langweilen werden.
Tayend zuckte die Achseln. »Ich bekomme die Gelegenheit, in privaten Bibliotheken herumzuschnüffeln. Das wiegt zehn Reisen auf. Außerdem kann ich meine Schwester besuchen.«
»Was für ein Mensch ist sie?«
Tayends Gesicht leuchtete auf. »Sie ist wunderbar. Ich denke, sie hat schon lange vor mir begriffen, dass ich ein ›Knabe‹ bin. Sie wird dir gefallen, denke ich, obwohl sie eine gewisse Neigung hat, direkt zur Sache zu kommen, eine Angewohnheit, die bisweilen ein wenig beunruhigend wirken kann.« Er deutete auf die Straße. »Siehst du diese Baumreihe auf dem Hügel vor uns? Von dort aus gelangt man direkt zu ihrem Anwesen. Lass uns ein wenig schneller reiten. Ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich habe Hunger!«
Als Tayend seinem Pferd die Sporen gab, wurde Dannyl bewusst, dass auch sein Magen knurrte. Er blickte zu den Bäumen hinüber, auf die Tayend ihn aufmerksam gemacht hatte, und trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an.
Als Sonea nach ihrem abendlichen Unterricht in die Bibliothek zurückkehrte, fielen ihr die Schatten unter Tyas Augen auf.
»Habt Ihr gestern Abend noch sehr lange gearbeitet, Mylady?«
Die Bibliothekarin nickte. »Wenn diese Bücherlieferungen kommen, bleibt mir nichts anderes übrig. Tagsüber finde ich keine Zeit, sie einzusortieren.« Sie gähnte, dann lächelte sie. »Ich bin dir sehr danbkar, dass du hier geblieben bist, um mir zu helfen.«
Sonea zuckte die Achseln. »Sind diese Kisten ebenfalls für die Magierbibliothek bestimmt?«
»Ja. Aber es ist nichts Interessantes dabei. Nur zusätzliche Lehrbücher.«
Bepackt mit Kisten machten sie sich auf den Weg durch die Universität. Als Sonea Tya in die Magierbibliothek folgte, zog Lord Jullen die Augenbrauen in die Höhe.
»Ihr habt also eine Assistentin gefunden«, bemerkte er. »Ich dachte, Lorlen hätte Eure Anfrage abgelehnt.«
»Sonea hat mir aus freien Stücken ihre Hilfe angeboten.«
»Solltest du nicht eigentlich lernen, Sonea? Ich hätte gedacht, die Novizin des Hohen Lords hätte Wichtigeres zu tun, als Kisten zu schleppen.«
Sonea sah ihn mit betont ausdruckloser Miene an. »Wüsstet Ihr einen besseren Platz, an dem ich meine freie Zeit verbringen könnte, Mylord?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Solange es sich tatsächlich um freie Zeit handelt.« Er blickte zu Tya hinüber. »Ich mache Schluss für heute. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Lord Jullen«, erwiderte Tya.
Als der strenge Magier sie allein gelassen hatte, ging Tya auf den Lagerraum zu. Sonea kicherte.
»Ich glaube, er ist eifersüchtig.«
»Eifersüchtig?« Tya drehte sich um und runzelte die Stirn. »Worauf?«
»Ihr habt eine Assistentin. Und zwar keine Geringere als die Novizin des Hohen Lords.«
Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du hast eine hohe Meinung von dir.«
Sonea schnitt eine Grimasse. »Ich habe mir meinen Mentor nicht ausgesucht. Aber ich gehe jede Wette ein, dass Jullen ein wenig verstimmt darüber ist, dass Ihr eine willige Helferin gefunden habt.«
Tya presste die Lippen aufeinander, als versuche sie, ein Lächeln zu unterdrücken. »Dann komm. Wenn du nur herumstehst und große Reden schwingst, wirst du mir wohl kaum von Nutzen sein.«
Sonea folgte Tya in den Lagerraum, stellte die Kisten auf eine Truhe und machte sich daran, sie auszupacken. Sie widerstand der Versuchung, sich den Schrank mit alten Büchern und Karten näher anzusehen, und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Arbeit. Tya hielt mehrmals inne, um zu gähnen.
»Wie spät seid Ihr gestern Abend denn nun wirklich zu Bett gegangen?«, fragte Sonea.
»Zu spät«, gestand Tya.
»Warum überlasst Ihr diese Arbeit nicht einfach mir?«
Tya sah sie ungläubig an. »Du hast wirklich zu viel Energie, Sonea«, seufzte sie. »Ich sollte dich nicht allein hier zurücklassen - außerdem müsste ich dich einschließen und später zurückkommen, um dich wieder herauszulassen.«
Sonea zuckte die Achseln. »Ihr werdet mich schon nicht vergessen.« Sie blickte auf die Bücher hinab. »Beim Auspacken der Bücher kann ich Euch helfen, aber nicht beim Katalogisieren. Am besten geht Ihr wieder an Euren Platz zurück und beendet die Arbeit.«
Tya nickte. »Also gut. In einer Stunde bin ich wieder da, um dich herauszulassen.« Sie lächelte. »Danke, Sonea.«
Als Tyas Schritte sich entfernten, sah Sonea sich mit wachsender Erregung in der Bibliothek um. Staub hing in der Luft, gelblich gefärbt vom Schein ihrer Lichtkugel. Die Bücherregale erstreckten sich bis in die Dunkelheit hinein, als würden sie niemals ein Ende nehmen.
Lächelnd kehrte sie in das Lager zurück und packte die Lehrbücher so schnell wie möglich aus. Sie zählte die Minuten, denn ihr war bewusst, dass sie nur eine Stunde Zeit hatte. Sobald die Kisten ausgepackt waren, ließ sie sie stehen und wandte sich dem Schrank zu.