Выбрать главу

Sie untersuchte das Schloss sehr genau, sowohl mit den Augen als auch mit ihren Sinnen. Obwohl das nichtmagische Schloss nicht komplizierter war als die Schlösser, die sie in der Vergangenheit aufgebrochen hatte, wusste sie nicht, ob es möglich war, ein magisches Schloss zu manipulieren. Außerdem musste sie befürchten, dass man später feststellen konnte, wer sich daran zu schaffen gemacht hatte.

Als Cery ihr beigebracht hatte, wie man Schlösser aufbrach, hatte er ihr erklärt, dass sie immer zuerst nach einem anderen Weg suchen müsse. Manchmal gab es schnellere Methoden, ans Ziel zu kommen. Sie suchte nach Scharnieren an den Türen und fluchte leise, als sie sah, dass sie sich innen befanden.

Sie machte sich daran, die ganze Einheit zu untersuchen, wobei sie besonders auf die Ecken und Kanten achtete. Der Schrank war alt, aber stabil. Nachdenklich schürzte sie die Lippen, dann holte sie sich einen Hocker und stellte sich darauf, so dass sie von oben auf den Schrank blicken konnte. Auch dort konnte sie keine Schwächen entdecken. Seufzend stieg sie wieder hinunter.

Damit blieben noch die Rückwand und der Sockel. Um unter den Schrank zu blicken, würde sie ihn mit Magie anheben müssen. Obwohl sie sich von den Anstrengungen des vergangenen Abends genug erholt hatte, um den Unterrichtsstoff zu bewältigen, war sie sich nicht sicher, ob sie den Schrank anheben und in der Luft halten konnte. Interessierte die Karte sie wirklich so sehr?

Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete noch einmal den Schrank. Eine dünne Glasscheibe und ein wenig Draht waren alles, was zwischen ihr und einer möglichen Flucht vor Regin stand. Hilflos nagte sie an ihrer Unterlippe.

Dann fiel ihr plötzlich auf, dass an der Rückwand des Schrankes, die sie hinter den Büchern teilweise sehen konnte, etwas merkwürdig war. Sie konnte zwei Linien erkennen, zu gerade, als dass es sich um natürliche Risse im Holz hätte handeln können. Die Rückwand des Schrankes war offensichtlich nicht aus einem einzigen großen Holzbrett gemacht worden. Sie beugte sich ein wenig vor, um festzustellen, ob die Linien bis zur Unterseite des Schrankes hinunterreichten. Sie taten es nicht.

Sie trat auf die eine Seite des Schranks und spähte in die Lücke zwischen ihm und der Wand. Dann schuf sie eine winzige Lichtkugel, um den schmalen Spalt zu beleuchten, und machte eine eigenartige Entdeckung.

An der Wand hinter dem Schrank war ein Gegenstand befestigt, der etwa die Größe eines Lehrbuchs hatte, aber aus Holz gemacht war.

Sie trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und griff nach ihrer Magie, die sie um den Schrank herumwob, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass ihre Magie auf keinen Fall die des Schlosses berührte. Mit einem ganz sachten Befehl hob sie den Schrank hoch. Er taumelte ein wenig, als er sich vom Boden erhob. Mit konzentriert gerunzelter Stirn drehte sie ihn etwas von der Wand weg und setzte ihn dann vorsichtig wieder ab, wobei sie einige Faren aus ihren Netzen aufscheuchte.

Sonea stieß den Atem aus und bemerkte erst jetzt, dass ihr Herz wild hämmerte. Wenn jemand entdeckte, was sie getan hatte, würde sie noch lange dafür büßen müssen. Sie blickte durch die Glasscheibe und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass alle Bücher und Schriftrollen noch am selben Platz waren wie zuvor. Als Nächstes stellte sie fest, dass der Gegenstand hinter dem Schrank nur ein kleines Gemälde war. Dann sog sie überrascht den Atem ein.

In die Rückseite des Schranks hatte man ein kleines Rechteck gesägt. Sie schob die Fingernägel in die Ritze, und das rechteckige Holzstück glitt mühelos heraus. Dahinter sah sie die Enden zusammengerollter Papiere und einige Bücher.

Ihr Herz raste jetzt. Sie zögerte, denn sie hatte kein gutes Gefühl dabei, in den Schrank zu greifen. Irgendjemand hatte die Rückwand ausgeschnitten. Als der Schrank gemacht worden war? Oder später, damit der Betreffende unbemerkt etwas aus dem Schrank nehmen konnte? Soneas Sinne konnten keinen Schild über dem Loch wahrnehmen, ebenso wenig wie irgendwelche andere Magie. Sie schob die Hand hinein und zog vorsichtig eine der Schriftrollen heraus.

Es war ein Plan der Magierquartiere. Sie untersuchte ihn sehr genau, konnte aber keine verborgenen Tunnel entdecken, die dort eingezeichnet gewesen wären. Also legte sie den zusammengerollten Plan zurück und zog den nächsten heraus. Diesmal war es ein Plan der Novizenquartiere. Und auch dort gab es keine geheimen Tunnel.

Die dritte Rolle, die sie herauszog, zeigte eine Karte von der Universität, und Soneas Puls beschleunigte sich. Aber auch auf dieser Karte war nichts Rätselhaftes oder Ungewöhnliches eingezeichnet. Enttäuscht legte Sonea sie zurück und wollte gerade nach einer anderen greifen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.

Zwischen den Seiten eines Buches ragte ein Streifen Papier heraus. Neugierig geworden, zog sie das Buch zwischen seinen Nachbarn hervor.

»Die Magiker der Weld«, las sie laut. Es war einer der frühen Texte, die im Geschichtsunterricht benutzt wurden. Unter dem Titel war in verblichener Tinte geschrieben: »Die Kopie des Hohen Lords«.

Ein Schauer überlief sie. Plötzlich hatte sie nur noch den einen Wunsch, das Buch an seinen Platz zurückzulegen, den Schrank wieder an die Wand zu schieben und so schnell wie möglich aus der Bibliothek fortzukommen. Sie holte tief Luft und drängte ihre Ängste beiseite. Die Bibliothek war verschlossen. Selbst wenn Jullen oder Tya zurückkamen, würde sie sie rechtzeitig hören können. Obwohl sie sich in diesem Fall würde beeilen müssen, konnte sie den Schrank wahrscheinlich an Ort und Stelle zurückbefördern, bevor irgendjemand den Lagerraum betrat.

Sie schlug das Buch an der Stelle auf, an der der Papierstreifen lag, überflog die Seiten und stellte fest, dass sie einen Teil des Textes kannte. Sie fand nichts Ungewöhnliches, was das Lesezeichen erklärt hätte. Achselzuckend legte sie es wieder in das Buch.

Dann stockte ihr plötzlich der Atem. Auf dem Papierstreifen waren drei winzige, von Hand gezeichnete Karten der Universität zu sehen - eine für jedes Stockwerk. Auf anderen Karten waren die Mauern dicke Linien, auf dieser jedoch waren sie hohl, und es waren Türen eingezeichnet, wo sich ihres Wissens keine befanden. Innerhalb der Mauern fanden sich außerdem rätselhafte kleine Kreuze. Die dritte Karte, die das Erdgeschoss darstellte, zeigte ein Spinnennetz von Tunneln außerhalb der Universitätsmauern.

Sie hatte sie gefunden! Eine Karte von den Tunneln unter der Universität. Oder genauer gesagt, eine Karte von Tunneln und echten Geheimgängen, die sich durch die ganze Universität zogen.

Die Karte in der Hand trat sie von dem Schrank zurück. Sollte sie sie mitnehmen, oder würde irgendjemand ihr Verschwinden bemerken? Vielleicht konnte sie sie kopieren. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Konnte sie sich die Zeichnungen einprägen?

Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie nun ein kleines Symbol auf einer der inneren Mauern neben der Magierbibliothek. Dann wurde ihr klar, dass dies die Wand war, vor der sie gerade stand, und das Symbol war genau an der Stelle, an der …

Sonea drehte sich um und starrte das Gemälde an, das hinter dem Schrank hing. Warum hängte man ein Gemälde hinter einen Schrank? Sonea griff nach dem Rahmen, hob ihn an und schnappte nach Luft.

In der Wand hinter dem Bild befand sich ein rechteckiges Loch. Als sie hindurchspähte, konnte sie im Licht, das durch die Öffnung fiel, die gegenüberliegende steinerne Mauer erkennen.

Hastig ließ sie das Gemälde wieder sinken. Ihr Herz hämmerte. Dies war kein Zufall. Wer immer diese Öffnung angebracht hatte, hatte es getan, um den Schrank erreichen zu können.

Es könnte bereits vor Jahrhunderten geschehen sein. Oder es war erst vor kurzer Zeit geschehen. Als sie sich die Karte noch einmal ansah, wurde ihr klar, dass sie sich unmöglich alle Einzelheiten einprägen konnte, und jetzt, da sie wusste, dass irgendjemand möglicherweise Zutritt zu dem Schrank hatte und das Verschwinden des Plans bemerken könnte, wagte sie es nicht, ihn mitzunehmen. Aber sie konnte auch nicht mit leeren Händen gehen. Eine solche Chance würde sich ihr vielleicht nicht noch einmal bieten.