Vorsichtig wandte ich mich ab und begann, nach unten zu klettern. Ein oder zwei Mal sah ich hinunter, um festzustellen, ob die Sprossen mein Gewicht hielten. Jedes Mal war der Garten Schwindel erregend weit entfernt. Ich hatte fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte.
»David! David! Warten Sie auf mich!«
Ich sah nach oben und musste wegen des Regens blinzeln. Detective Sergeant Miller hatte sich über die Brüstung gebeugt und winkte mir zu; seine blonden Haare waren so nass, dass sie am Kopf klebten, seine Brillengläser beschlagen, sein Gesicht noch rötlicher als üblich. Sein Gesicht war das einzig Lebendige in dieser gelblich grauen Landschaft.
»Sie haben Danny zur Kapelle gebracht«, rief ich ihm zu.
Er begann, mir nachzuklettern. »Ich habe den Garten nach ihm abgesucht«, keuchte er. »Natürlich haben wir nichts gefunden. In dem Moment wurde mir klar, was es mit
Fortyfoot House auf sich hat. Verschiedene Zeiten! Verschiedene Gärten! Natürlich konnte ich den Holzköpfen nicht sagen, wohin ich gehen wollte. Sie hätten mir kein Wort geglaubt.«
»Machen Sie langsam«, rief ich. Er stieg mit solchem Eifer die Leiter hinunter, dass sie zu wackeln begann und einige Verankerungen in der Hauswand bedenklich knirschten. Wir wollten nicht nur sicher nach unten kommen, wir wollten auch wieder nach oben klettern können.
Schließlich hatte ich die unterste Sprosse erreicht und sprang das letzte Stück auf die Veranda hinab. Miller folgte mir fast auf dem Fuß, musste aber die Hände zu Hilfe nehmen, um sich abzustützen. Er wischte den grauen Schleim von seinen Fingern und schnupperte misstrauisch. »Was ist denn das?«, wunderte er sich. »Alles ist davon überzogen, sieht aus wie eine Mischung aus Quallen und Leichen.«
»Wahrscheinlich ist es das auch«, erwiderte ich.
Wir eilten durch den Garten in Richtung Bach. Von der Sonnenuhr war nur noch ein Stumpf übrig, der an einen verfaulten, zerfallenen Zahn erinnerte. Auf der rutschigen toten Vegetation glitten wir immer wieder aus, während die schwefelhaltige Luft unsere Lungen so sehr reizte, dass wir fast unaufhörlich husten mussten.
Es floss noch immer ein Bach durch den Garten, aber es war eine dickliche braune Flüssigkeit, die nach Abwasser stank. Wir versuchten, den Bach mit einem Sprung zu überwinden, doch Miller rutschte am gegenüberliegenden Ufer aus und trat mit einem Fuß bis zur Oberkante seiner Socke in die Flüssigkeit.
»Oh Scheiße«, fluchte er, während er den Fuß schüttelte.
»Damit könnten Sie Recht haben«, bemerkte ich.
Wir erklommen den Hügel, der zur Friedhofsmauer führte. Die Erde unter unseren Füßen zitterte, als fahre eine unendlich lange U-Bahn unter uns hindurch. Hinter der Kapellenwand zuckten grelle Lichtblitze auf. Ich hörte panische Schreie und ein schreckliches Stöhnen ... und noch etwas anderes: Die unverkennbare Stimme des jungen Mr. Billings, der in einer Sprache eine haarsträubende Beschwörung rezitierte, von der ich nicht einmal hoffte, sie aussprechen zu können. Davon, sie zu verstehen, völlig abgesehen. Es klang nach keiner menschlichen Sprache, die ich jemals gehört hatte. Es war mehr wie das Zwitschern riesiger Insekten, vermischt mit den Unterwasserlauten von Delphinen. Tekeli-li! Tekeli-li!
Miller und ich eilten gebückt zwischen dem Unkraut des Friedhofs hindurch, dessen Grabsteine inzwischen fast alle umgestürzt, zerbrochen und zerfressen waren, nachdem sie jahrelang in saurem Regen gestanden hatten. Ein aus Stein gehauener Engel wies statt prachtvoller Flügel nur noch missgestaltete Stümpfe auf, und sein Gesicht hatte sich so weit aufgelöst, dass es eher einem Affen mit flacher Stirn glich.
Wir erreichten die Tür der Kapelle. Diesmal würde es viel einfacher als noch 1992 sein, in das zerfallene Gebäude zu gelangen, da ein Großteil der Holzbohlen längst verrottet war.
»Wie sieht Ihr Plan aus?«, fragte Miller.
»Was?«
»Ich meine, was wollen Sie machen, wenn Sie hineingegangen sind?«
»Wie soll ich das wissen? Ich werde mir Danny schnappen und loslaufen. Was soll ich sonst machen?«
»Sie brauchen irgendeine Ablenkung. Sonst werden Sie nicht mal fünf Meter zurücklegen können.«
Ich überlegte. »Ich schätze, Sie haben Recht. Was schlagen Sie vor?«
»Zunächst mal sollten wir herausfinden, ob sich da drin drei oder dreihundert Leute aufhalten.«
Er sah zu dem Fenster, durch das ich zum ersten Mal den jungen Mr. Billings über den Rasen hatte eilen sehen. »Kommen Sie«, sagte Miller und ging zwischen den Grabsteinen vor mir her, bis wir das Fenster erreicht hatten.
Im Inneren der Kapelle zuckten so grelle Blitze, dass ich eine Hand vor meine Augen legen musste, um nicht geblendet zu werden. Der Gesang des jungen Mr. Billings war heftiger und komplizierter geworden, bis er schließlich nahezu schrie. Ich richtete mich so weit auf, dass ich gerade über die mürbe Steinfensterbank spähen konnte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass Miller das Gleiche machte.
Keiner von uns sagte etwas, als wir ins Innere der Kapelle blickten. Miller verstand zwar nicht die Bedeutung dessen, was sich uns präsentierte, dennoch hatte er den Mund geöffnet und wirkte so, als weigere sich sein Verstand, das als wahr anzuerkennen, was seine Augen sahen.
An der linken Wand der Kapelle hatte man sämtliches Efeu entfernt, wodurch nicht nur das Wandgemälde von Kezia Mason, sondern auch die Bildnisse zahlloser weiterer junger Frauen freigelegt worden waren. Nach der Mode der Kleidung auf den Malereien zu urteilen, stellten sie vermutlich sämtliche Frauen dar, die über Generationen hinweg als Wirt für das Hexen-Wesen gedient hatten. Alle hatten den gleichen Gesichtsausdruck und die gleiche Körperhaltung wie Kezia Mason, das gleiche Spöttische, Triumphierende. Und jede von ihnen hatte einen eigenen Brown Jenkin, mal auf der Schulter liegend, mal im Arm gehalten. Manche von ihnen sahen aus wie Katzen oder Echsen, andere wie eine Kreuzung aus Hund und Kröte.
Dort, wo sich früher das Mittelschiff der Kapelle befunden hatte, waren jetzt drei riesige Pfannen. Sie sahen aus, als habe man sie aus alten Chemiefässern gefertigt, grobschlächtig mit Löchern versehen und mit Kohle und trockenem Holz gefüllt. Metallgitter waren über diese Pfannen gelegt worden, auf denen gut zehn große Fleischstücke geröstet wurden. Ich hielt sie zunächst für Spanferkel, doch als sich der Rauch für einen Moment verzog, konnte ich ein Gesicht ausmachen.
Das waren keine Spanferkel, das waren Kinder! Die abgeschlachteten Waisen des Fortyfoot House. Einigen waren Arme und Beine abgehackt worden, andere hatte man enthauptet. Einige waren mit Draht an den Gittern befestigt worden; vermuüich hatten sie noch gelebt, als man begonnen hatte, sie zu rösten.
Von den Pfannen bis zum Altar waren die zerbrochenen Ziegel mit den Knochen von Kindern übersät. Der Altar selbst verschwand förmlich unter Tausenden von Knochen, die zum Teil noch frisch waren. Einige waren aber auch schon so alt, dass sie teilweise zu Staub zerfallen waren. Es fanden sich Brustkörbe, Beckenknochen, Schenkelknochen, Schulterblätter - und mehr kleine Schädel, als ich zählen konnte.
Auf diesem Berg lag die groteskeste Kreatur, die ich jemals gesehen hatte. Allein ihr Anblick machte mich schon fast wahnsinnig. Sag, dass das nicht wahr ist, forderte mein Verstand.
Aber es war nur allzu wahr. Es war eine Frau, eine unglaublich aufgeblähte Frau, die nackt auf einem Stapel aus Decken und blutverschmierten Matratzen lag. Ihr Bauch war eine gewaltige Kugel, und was den Anblick noch schlimmer machte, waren die unablässigen Bewegungen, als sei eine Kreatur in ihrem Bauch gefangen, die unbedingt in die Freiheit gelangen wollte. Auch ihre Brüste waren massiv angeschwollen, während ihr Hals so aufgedunsen war, dass ihr Gesicht einer winzigen Puppenmaske glich.
Neben ihr kniete eine in schmutzige Lumpen gehüllte Gestalt, von der Kezia Mason angeblich Brown Jenkin bekommen hatte - der König der Docklands-Unterwelt: Mazurewicz. Seine schmierigen bloßen Hände fütterten sie mit Fleisch und Knorpel und lauwarmem Fettgewebe. Sie ließ sich alles in ihren winzigen Mund stopfen und schluckte das meiste unzerkaut, was ihren Bauch nur noch heftiger zucken ließ.