Der junge Mr. Billings stand nicht weit davon entfernt, trug aber nicht Schwarz, wie sonst üblich, sondern hatte sich ein schlichtes weißes Laken übergeworfen, das ihn wie Marcus Antonius aus Julius Cäsar wirken ließ. Er hielt seine Augen geschlossen und seine Arme erhoben und schrie noch immer diese Gesänge in den Himmel, wieder und wieder.
»Tekeli-li! Tekeli-li!«
»Scheiß Hölle«, sagte Miller.
»Wo ist Danny?«, fragte ich. »Können Sie ihn sehen?«
Er schob seinen Kopf etwas höher über die Fensterbank.
»Dort«, sagte er. »In der Ecke, in der Nähe der Wand. Brown Jenkin hat ihn in seiner Gewalt, aber er scheint unverletzt zu sein.«
»Vielleicht warten sie, bis alle diese armen Kinder gar sind«, erwiderte ich.
Ich war so verstört von dem, was ich gesehen hatte, dass ich zu Boden blicken und eine Hand gegen meine Stirn pressen musste. Ich wusste nicht, ob ich Angst oder Verbitterung oder Hoffnung oder vielleicht nichts dergleichen spürte.
Miller senkte den Kopf und kam zu mir herüber. »Hören Sie«, sagte er. »Je schneller wir handeln, umso besser. So wie bei Drogenrazzien. Wir platzen beide herein und schreien wie die Verrückten. Das hilft, um sie zu verwirren. Ich renne nach rechts, als würde ich versuchen, den Kerl in dem weißen Nachthemd auszuschalten, während Sie nach links rennen und sich Danny schnappen. Dann gehen Sie durch die Tür wieder raus, während ich aus dem Fenster springe. Und dann rennen Sie so, als hätte Ihnen jemand Feuer unter dem Hintern gemacht.«
»Und Brown Jenkin?«, fragte ich.
»Verpassen Sie ihm einen Tritt in die Eier, sofern er welche hat. Zögern Sie nie, und schreien Sie weiter. Und warten Sie nicht auf mich, denn ich werde nicht auf Sie warten.«
»Also gut.« Ich schluckte. Wieder zuckten Lichter nach draußen, der Boden zitterte heftig. Ich hörte das entsetzliche Geräusch der Schädel, die ihren Halt verloren und aus dem Knochenberg rutschten.
Schulter an Schulter standen wir vor dem Vordereingang der Kapelle. Ich hatte solche Angst, dass ich kaum atmen konnte, was mir bei der brennenden Luft ohnehin schwer fiel. Ich musste mich alle Augenblicke räuspern, um den hartnäckigen Hustenreiz zu bekämpfen.
»Bereit?«, fragte Miller.
Ich sah ihn an. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer er eigentlich war. Und doch befand er sich jetzt an meiner Seite, in einem unvorstellbaren Abenteuer, riskierte sein Leben, um gegen das obszönste Geschöpf zu kämpfen, das ich jemals gesehen hatte.
»Bereit«, sagte ich. »Und ... danke.«
»Unfug. Das ist mein Job.«
Gemeinsam stürmten wir in die Kapelle und schrien aus Leibeskräften. Im gleichen Moment erschütterte ein ohrenbetäubender Donner die Ruine. Der kurz danach in den Boden der Kapelle einschlagende Blitz blendete uns, während Knochen und Dachziegel wie Schrapnellgeschosse in alle Richtungen flogen.
Ich zögerte eine Sekunde lang, war verwirrt, lief dann aber brüllend weiter, sprang über die Dachziegel und eilte auf Danny und Brown Jenkin zu. Der hatte Danny bereits das T-Shirt ausgezogen, während er mit einem langen Eisenstück das Feuer in der nächstbesten Pfanne weiter schürte. Ich sah, dass Tränen über Dannys Wangen liefen.
»Pretty fire, oui? You like the pretty fire?«
Ich glaube nicht, dass Brown Jenkin mich kommen sah, ganz im Gegensatz zu Danny. Der machte abrupt einen Satz nach hinten. Während Brown Jenkin nach ihm greifen wollte, rannte Danny auf mich zu, als könne er ein Sportabzeichen gewinnen, wenn er schnell genug bei mir war.
»Ahhhhhhhh!«, kreischte Brown Jenkin und eilte ihm mit wehendem schwarzen Umhang hinterher.
Danny kam buchstäblich in meine Arme geflogen, ich fing ihn auf und rannte los, um die Pfannen, zwischen dem widerwärtigen Rauch verschmorter Kinder hindurch, während meine Schuhe Knochen und Dachziegel zertraten. Ich vergaß, weiter zu schreien, doch da ich jetzt Danny im Arm hielt, hätte ich ohnehin nicht genug Atem dazu.
»Bastardbastard, I cut out your lunchpipes!«, jaulte Brown Jenkin, der hinter mir herhüpfte.
Ich blieb stehen und setzte kurz Danny ab, um gegen die letzte der Pfannen zu treten und Brown Jenkin mit glühender Kohle und brennendem Holz und den gerösteten Körpern seiner unschuldigen Opfer zu überschütten.
Sein Umhang fing Feuer, woraufhin er ihn wie wild auf den Boden schlug, während er fluchte und spuckte.
Ich war weit genug entfernt. Ich hatte die halbe Strecke zur Tür zurückgelegt und niemand konnte mich einholen.
Ich drückte Danny fest an mich, doch als ich die Tür erreicht hatte und mich noch einmal umsah, erkannte ich, dass Miller nicht so viel Glück gehabt hatte.
Mazurewicz war von dem Berg aus Knochen herabgestiegen und hatte ihn zu fassen bekommen. Jetzt hielt er Millers Haare fest und drückte ein langes geschwungenes Messer an dessen Kehle.
»Gehen Sie!«, schrie Miller. »Um Himmels willen, David, gehen
Sie!«
Ich setzte Danny ab und sagte ihm: »Hör gut zu. Du musst zum Haus zurücklaufen. Bleib auf keinen Fall stehen. Kletter über die Feuerleiter nach oben und steig durch das Dachfenster ins Haus. Dann gehst du sofort nach unten und suchst nach Charity. Du bleibst bei Charity. Ganz egal, was passiert, sprich nicht mit Liz. Liz ist böse. Es ist nicht ihr Fehler, aber sie ist böse. Also bleib bei Charity.«
»David, hören Sie nicht? Sie sollen gehen«, wiederholte Miller.
»Du bleibst aber nicht hier, oder?«, fragte Danny verängstigt.
»Nein, nur noch ein paar Minuten. Und jetzt lauf!«
Danny gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann rannte er in aller Eile über den Friedhof und durch den schwefligen Lichtschein. In dem Moment stürmte Brown Jenkin auf mich zu. Sein Umhang qualmte noch immer, während er mit seinen Klauen die Luft zerschnitt und hysterisch schrie.
»Merde-fucker, I rip you to pieces!«
Ich duckte mich und trat ihn so hart ich konnte. Er kreischte auf, und aus seinem Fell regnete es Läuse. Ich trat erneut zu, auch wenn es mir so vorkam, als würde ich ein totes Huhn treten, das in ein Handtuch gewickelt worden war. Brown Jenkin kreischte abermals, doch diesmal trafen seine Klauen mein Bein. Er zerfetzte mein Hosenbein und fügte mir einen gut zehn Zentimeter langen, tiefen Schnitt in meinem Wadenmuskel zu.
In dem Moment verlor ich das Gleichgewicht und sprang nach hinten, während ich fest davon überzeugt war, dass er mich töten würde. Mit einem Mal musste ich an Dennis Pickering denken und verlor jeglichen Mut. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, mein gesamtes Nervensystem schien wie gelähmt.
»Bueno, bueno, now 1 cut out your chitterlings, ja?«, kicherte Brown Jenkin und kam langsam näher. Seine gelben Augen verengten sich und seine Klauen schlugen aneinander wie todbringende Kastagnetten.
21. Rituelle Geburt, ritueller Tod
Durch den Donner und durch das Poltern und Klappern der Knochen, das Brutzeln der toten Kinder und Mazurewicz' Gekicher hörte ich eine kraftvolle, dröhnende Stimme: »Jenkin! Hör auf! Bring ihn zu mir!«
Brown Jenkin knurrte und versetzte mir einen letzten trotzigen Hieb. Aber offenbar blieb ihm nichts anderes übrig, als mich zum Altar zu bringen, wo der junge Mr. Billings in seinem weiten weißen Gewand stand.