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Aber vor wem?

Ohne auf Petachs strafenden Blick zu achten, öffnete Aton nun doch die Beifahrertür und stieg aus. Petach sagte nichts, sondern ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Aton folgte ihm. Der Ägypter schwieg immer noch, aber die Blicke, mit denen er ihn maß, als Aton sich wortlos vorbeugte und den Wagenheber aus der Halterung im Inneren des Kofferraums löste, waren sehr beredt. Aton hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß der einzige Grund, aus dem er nicht darauf beharrte, daß er wieder in den Wagen stieg und die Türen verriegelte, der war, daß er ihm dann womöglich hätte erklären müssen, warum er darauf bestand.

Während Petach scheinbar mühelos den schweren Ersatzreifen um den Wagen herumtrug, ließ sich Aton neben dem Mercedes in die Hocke sinken und suchte nach einer passenden Stelle, um den Wagenheber anzusetzen. Er fand keine.

Der Boden war vom letzten Regen so aufgeweicht, daß der Wagenheber fast zur Hälfte darin versank. Petach blickte Aton hilfesuchend an. Daß der Ägypter alles andere als ein praktisch veranlagter Mensch war, hatte Aton schon bei ihrem ersten Zusammentreffen herausgefunden. Um so mehr hatte es ihn gewundert, daß er das Rad ganz allein wechseln wollte.

»Sie müssen ihn wieder auf die Straße hinausfahren«, sagte er. »Hier ist es zu gefährlich.«

Petach nickte und wollte wieder um den Wagen herumgehen, aber Aton rief ihn noch einmal zurück. »Stellen Sie Ihr Warndreieck auf«, sagte er mit einer Geste auf die Kurve, die keine zwanzig Meter hinter ihnen lag. »Die Straße ist ziemlich schmal. Wenn da einer um die Ecke gefegt kommt, knallt er uns sonst ins Heck.«

Petachs Gesichtsausdruck wurde noch verdrießlicher, aber er sah ein, daß Aton völlig recht hatte, und kramte wortlos das Warndreieck und eine gelbe Blinkleuchte aus dem Kofferraum hervor. »Du bleibst beim Wagen«, schärfte er Aton ein, als er sich wieder aufrichtete. »Ganz egal, was passiert.«

Aton nickte, und Petach machte sich auf den Weg. Aton sah ihm nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war, dann drehte er sich herum und blickte aufmerksam zum Waldrand hinüber. Er fragte sich, warum Petach vorhin so besorgt dorthin gesehen hatte, und er fragte sich erst recht, was die sonderbaren Worte des Ägypters zu bedeuten hatten. Was um alles in der Welt ging hier vor? Hätte er nicht gewußt, daß der Gedanke völliger Unsinn war, dann hätte er geschworen, daß er sich in Gefahr befand. Zumindest benahm sich Petach so, und seinem sonderbaren Benehmen und seinen noch sonderbareren Andeutungen nach mußte es eine erhebliche Gefahr sein.

Aber das war natürlich vollkommen ausgeschlossen. Die größte Gefahr, der sich Aton in den letzten zwei Jahren gegenübergesehen hatte, war die Tracht Prügel von Werner und dessen Spießgesellen gewesen. An ihm war weder etwas Besonderes, noch waren seine Eltern so vermögend, daß sich etwa eine Entführung gelohnt hätte. Außerdem kam so etwas ohnehin nur in Fernsehkrimis und schlechten Spielfilmen vor.

Eine Bewegung am Waldrand unterbrach Atons Gedanken.

Es war nur ein Huschen, das er kaum aus den Augenwinkeln wahrnahm; das Zittern eines Astes, das Fallen eines letzten Blattes, ein Schatten, der das schwindende Tageslicht für den Bruchteil eines Augenblicks völlig verdeckte. Aber er war sicher, es sich nicht eingebildet zu haben. Irgend etwas bewegte sich dort drüben, und plötzlich hatte er das intensive Gefühl, beobachtet zu werden.

Er sah nervös die Straße hinunter und dann wieder zum Waldrand. Das Gefühl, belauert zu werden, wurde stärker.

Und nun empfand er auch Angst. Eine gestaltlose, fast irreale Furcht, die auf dürren Spinnenbeinen in seine Seele kroch und ihn frösteln ließ. Das Tageslicht schwand so schnell, daß er zusehen konnte, wie es dunkler wurde. In das blasse Grau des Himmels mischte sich Schwarz, und das Grün des Waldrandes zerlief zu einem violetten, unheimlichen Farbton. Die Lücken zwischen den dichtstehenden Bäumen wirkten plötzlich wie schwarze Wunden in der Wirklichkeit, nicht einfach nur Dunkelheit, sondern klaffende Risse in der Welt, aus denen etwas Unsichtbares, Körperloses und ungemein Bedrohliches hervorzukriechen begann ...

Aton versuchte, den Gedanken als absurd abzutun. Aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Im Gegenteil. Seine Furcht wurde immer stärker, und er spürte, wie sein Herz zu klopfen begann und seine Handflächen feucht wurden. Wieder sah er die Straße hinunter. Von Petach war noch immer keine Spur zu sehen, dabei hätte er längst zurück sein müssen, selbst wenn er sich beim Aufstellen des Warndreiecks so ungeschickt anstellte, wie Aton vermutete.

Einen Moment lang überlegte er, ihm einfach nachzugehen, ganz egal, welche Vorhaltungen er sich dann anzuhören hatte. Aber der bloße Gedanke, sich vom Wagen zu entfernen, der inmitten dieser plötzlich so unheimlich gewordenen Dämmerung wie ein letztes Bollwerk der Wirklichkeit wirkte, erfüllte ihn mit schierem Grauen. Langsam, die Hände dicht gegen den kühlen Lack des Wagens gepreßt, tastete er sich an der Seite des Mercedes entlang und suchte nach dem Türgriff. Als er ihn gefunden hatte und niederdrückte, hörte er das Geräusch.

Aton erstarrte. Es war ein Laut, wie er ihn nie zuvor im Leben vernommen hatte - ein unheimliches Hecheln, wie das Atmen eines riesigen Hundes, aber langsamer, machtvoller und gleichzeitig irgendwie metallisch, als käme es aus einer Kehle aus Stahl. Atons Herz begann wie rasend zu schlagen, und er mußte all seinen Mut aufwenden, um sich herumzudrehen und in die Richtung zu blicken, aus der das Geräusch gekommen war.

Auf der anderen Seite der Straße stand eine Gestalt. Sie war zu weit entfernt und stand zu dicht am Waldrand, schon fast mit den Schatten der hereinbrechenden Nacht verschmolzen, als wäre sie selbst nicht mehr als ein Stück Dunkelheit, das für einen kurzen Moment zum Leben erwacht war, so daß Aton sie nicht deutlicher denn ebenfalls als Schatten erkennen konnte. Doch das wenige, was er sah, reichte, ihm einen Schrecken einzujagen.

Die Gestalt war riesig, und ihre scheinbare Unförmigkeit rührte von dem wallenden Umhang in der Farbe der Nacht her, unter dem sie sich fast zur Gänze verbarg. Und ihr Kopf ...

IHR KOPF!

Aton schrie gellend auf und prallte zurück, und in diesem Moment erwachte der Schatten aus seiner Reglosigkeit und hob den Arm. Eine gespreizte Hand deutete auf Aton, dann schlossen sich die Finger ganz langsam, als wollten sie etwas Unsichtbares packen und zerquetschen, und im selben Augenblick spürte Aton, wie ihm eine unsichtbare Macht den Atem abschnürte. Sein Schrei wurde zu einem Röcheln, dann zu einem wimmern, ehe er ganz verstummte. Keuchend hob er die Hand an den Hals, wie um an den unsichtbaren Fesseln zu zerren, aber unter seinen Fingern war nichts, nur seine eigene Haut, die er sich mit den Fingernägeln blutig kratzte, ohne es zu bemerken. Er taumelte weiter zurück, rang verzweifelt nach Atem und verlor schließlich auf dem morastigen Boden das Gleichgewicht. Mit hilflos rudernden Armen stürzte er nach hinten und schlug schwer in dem feuchten Schlamm auf. Ein scharfer Schmerz schoß durch seinen Rücken, als sich etwas Hartes durch seine Jacke bohrte, aber der Sturz hatte auch die unsichtbare Fessel gesprengt, die ihm die Kehle zudrückte. Plötzlich bekam er wieder Luft. Er atmete keuchend ein und aus, versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, verlor aber sofort wieder den Halt.

Aber noch während er stürzte, sah er, wie sich der Schatten weiter auf ihn zu bewegte. Er befand sich jetzt hinter dem Wagen, so daß Aton seine noch immer erhobene Hand nicht mehr sehen konnte, aber er wußte plötzlich, daß es allein dieser Umstand war, der ihn gerettet hatte. Und daß die erstickende, unsichtbare Macht sofort wiederkehren würde, sobald der Unheimliche das Hindernis hinter sich gebracht hatte und wieder in direkter Linie vor ihm stand.