»Auch ich bin nicht allmächtig«, antwortete Petach, als Aton die Frage laut aussprach. »Und selbst wenn es in meiner Macht stünde, hätte ich es nicht gewagt. Magie lockt Magie an, mußt du wissen. Würde ich etwas tun, was nicht den Gesetzen dieser Welt entspricht, wäre das wie ein Signal für Osiris und die anderen. Aber wir sind ja auch so heil angekommen.«
Yassir grinste, und Aton war ganz und gar nicht sicher, daß sie wirklich nur zufällig genau in diesem Moment durch ein Schlagloch rumpelten, so daß Petach auf seinem Sitz in die Höhe geworfen wurde und reichlich unsanft wieder zurückfiel. Ärgerlich sagte er ein Wort in seiner Muttersprache zu Yassir, worauf dieser nur noch breiter grinste, das Tempo aber immerhin ein wenig zurücknahm.
Aton wandte seine Aufmerksamkeit von den beiden Männern vor ihm ab, denn in diesem Moment rumpelten sie um die letzte Biegung, und unter ihm breitete sich ein Anblick aus, der ihn sofort in seinen Bann schlug, obwohl er ihn nicht zum ersten Mal sah. Aber es war mit dem Tal der Könige wohl wie mit den Pyramiden: Es war gleich, ob man es zum allerersten oder zum hundertfünfzigsten Mal betrat - das Bild war immer gleich phantastisch und immer gleich atemberaubend. Vielleicht weil man spürte, daß dieser schmale, an drei Seiten von gigantischen braunen Sandsteinfelsen umschlossene Canyon eben mehr war als bloß eine Schlucht. Zahlreiche Pharaonen hatten im Inneren der Berge ihre letzte Ruhestätte gefunden, und auch wenn die Gräber längst entdeckt und ausgeplündert worden waren, so war doch etwas von all der Hoffnung und all der Ehrfurcht, die die Menschen an diesem Ort empfunden hatten, und von all den Gebeten, die sie hier gesprochen hatten, zurückgeblieben. Dies war ... ja, es war ein heiliger Ort, und selbst wenn er es vielleicht in einem anderen Sinne als dem war, in dem die Menschen das Wort heute benutzen mochten, so spürte man es doch.
Für Aton war dieser Ort jedoch in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes, denn er verband mit ihm auch noch eine äußerst unangenehme Erinnerung. Es war hier gewesen, wo er damals zum ersten Mal auf Petach getroffen war, und hier, wo er beinahe ums Leben gekommen wäre. Er verspürte ein eisiges Schaudern. Trotzdem kostete es ihn große Überwindung, seinen Blick von den steil aufragenden Felswänden zu lösen und sich wieder an Petach zu wenden.
»Wohin fahren wir?« fragte er.
Petach machte eine vage Handbewegung. »Nur noch einen Moment Geduld«, sagte er. »Du wirst es gleich sehen.«
Aber Aton wollte nicht mehr geduldig sein. Petachs Antwort machte ihn zornig. »Was soll die Geheimnistuerei?« fragte er scharf. »Ich erfahre es doch sowieso in ein paar Minuten, oder?«
»Richtig«, antwortete Petach ruhig. »Also besteht auch kein Grund, unfreundlich zu werden.«
Aton schluckte die zornige Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment hinunter. Petach war nervös, das spürte er. Er hatte zuvor während der Fahrt Aton wieder einmal erklärt, daß sie in Sicherheit wären, solange die Sonne schien, und trotzdem wurden die Blicke, die er um sich und in den Himmel hinauf warf, immer beunruhigter. Vielleicht, dachte Aton, haben seine ständigen Versicherungen, daß ihnen gar nichts passieren konnte, ebenso sich selbst wie mir gegolten. Aber er hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Es gab Fragen, auf deren Antworten er gar nicht so versessen war.
Plötzlich blinzelte Petach, beugte sich vor und starrte aus eng zusammengekniffenen Augen nach Norden. Atons Blick folgte ihm, und nach einer Sekunde gewahrte auch er einen winzigen, dunklen Punkt, der sich ihnen hoch in der Luft näherte.
»Was ist das?« fragte er.
Petach schwieg. Ein besorgter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus, und auch Yassir blickte kurz in den Himmel hinauf und sah danach deutlich ernster drein als zuvor, konzentrierte sich aber sofort wieder darauf, den Wagen zu steuern. Sie hatten den Grund erreicht und näherten sich, wieder schneller werdend, dem Ende des Tales.
Der Punkt am Himmel wurde größer, und bald hörten sie ein sonderbares, rhythmisches Geräusch - und dann atmeten Petach und Aton im gleichen Moment erleichtert auf. Was da auf sie zukam, war kein mythisches Ungeheuer, sondern schlicht und einfach ein Helikopter, dessen Pilot sich wohl das Tal aus der Luft ansehen wollte, denn er wurde langsamer und verlor auch deutlich an Höhe, je näher er kam.
»Es ist nur ein Hubschrauber«, sagte Petach mit unüberhörbarer Erleichterung in der Stimme.
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« fragte Aton. Petach schwieg.
Der Hubschrauber flog langsam und sehr tief über sie hinweg, und für einen Moment wurde das Geräusch der Rotoren so laut, daß eine Unterhaltung im Wagen unmöglich wurde. Yassir schickte dem Helikopter einen zornigen Blick nach, denn der Luftzug der vorüberfliegenden Maschine überschüttete den Wagen mit einem Schwall aus feinkörnigem, heißem Sand, und gab dann noch einmal Gas, um das Talende so rasch wie möglich zu erreichen.
Atons Unbehagen nahm noch weiter zu, als er begriff, was ihr Ziel war. Nämlich der Fuß jenes mit Schutt und Geröll übersäten Berges, an dem er damals verschüttet worden war.
Der Wagen hielt an. Yassir und Petach stiegen aus und machten einige steifbeinige Schritte, um ihre Glieder nach den endlosen Stunden im Wagen wieder geschmeidig zu machen. Aton folgte ihnen erst nach einigen Sekunden. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu beherrschen. Er hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein, keine Angst zu zeigen, ganz egal, was geschehen mochte, aber dies war ein Ort übler Erinnerungen, und für einen Moment war der Schrecken, der ihn aus einer zehn Jahre zurückliegenden Vergangenheit einholte, stärker als seine Vernunft, aber schließlich riß er sich zusammen und zwang sich, hinter Petach und Yassir aus dem Wagen zu klettern.
Petach sah ihn an, und er mußte wohl spüren, was in Aton vorging, denn plötzlich lächelte er auf eine sehr warme Art, die Aton einen Teil seiner längst verloren geglaubten Sympathien für ihn zurückbrachte. »Es ist bald geschafft«, sagte er. »Wir müssen nur noch -«
Er brach mitten im Satz ab, und im selben Moment blickten auch Yassir und Aton auf und drehten sich herum, denn das Geräusch des Hubschraubers begann wieder lauter zu werden. Der Helikopter hatte das jenseitige Ende des Tales erreicht und kehrtgemacht. Jetzt flog er genau auf sie zu und ging dabei immer tiefer und setzte schließlich keine zwanzig Meter entfernt zur Landung an. Aton zog den Kopf zwischen die Schultern und hob schützend die Arme vor das Gesicht, als sie abermals von einem Schwall heißer Luft, Sand und winzigen Steinen überschüttet wurden. Petach begann leise zu fluchen und drehte das Gesicht zur Seite, und auch Yassir duckte sich. Für einen Moment wurde der Sturmwind der Rotoren so stark, daß Aton wankte. Er wich ein paar Schritte zurück, sah aber weiter zum Helikopter hinüber.
Die Maschine berührte den Boden, und die Rotoren liefen pfeifend aus. Noch bevor sie vollends zur Ruhe gekommen waren, wurden die Türen des kleinen Hubschraubers aufgestoßen, und zwei Gestalten sprangen aus der Kanzel heraus.
Aton riß ungläubig die Augen auf, als er sie erkannte - es waren sein Vater und Sascha.