Natürlich, dachte er verblüfft. Wieso hatte er es eigentlich nicht gleich begriffen? Der Helikopter gehörte zur technischen Ausstattung der Baustelle, die sein Vater leitete, und er hatte oft erzählt, wie gerne er damit flog. Wahrscheinlich hatte es Sascha nur einen halbstündigen Fußmarsch und ein Telefongespräch gekostet, um die Strecke von Bubastis hierher weitaus bequemer und schneller zurückzulegen als sie.
Die beiden kamen rasch näher. Auf Saschas Gesicht lag ein Ausdruck von verhaltenem Triumph, aber auch Erleichterung, während sich das seines Vaters mit jedem Schritt verdüsterte. Wortlos eilte er an Petach und Yassir vorüber, ergriff Aton an der Schulter und drehte ihn unsanft herum, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern. Erst als er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, daß sein Sohn unversehrt war, ließ er ihn los und wandte sich Petach zu.
»Also ist es wahr!« Er deutete auf Sascha. »Ich wollte nicht glauben, was sie mir erzählt hat, aber jetzt sehe ich es selbst. Sie haben meinen Sohn entführt!«
»Es ist nicht so, wie Sie -«, begann Petach, aber Atons Vater fiel ihm sofort und mit scharfer Stimme ins Wort:
»Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte, wir wären Freunde. Aber Sie haben das von Anfang an geplant, nicht wahr? Was wollen Sie? Geld?«
»Vater, er hat recht«, versuchte sich Aton einzumischen. »Es ist alles ganz anders.«
Sein Vater ignorierte ihn. »Oder sind Sie auch so ein Verrückter, der etwas gegen meine Arbeit hat?« fuhr er mit bebender Stimme fort.
Es fiel Petach immer schwerer, Ruhe zu bewahren, das sah Aton deutlich. »Bitte hören Sie mir wenigstens zu«, sagte er. »Es ist alles ganz anders, als Sie glauben. Ich weiß nicht, was diese junge Frau Ihnen erzählt hat, aber -«
»Eine völlig verrückte Geschichte«, unterbrach ihn Atons Vater erneut. »Fast so verrückt wie das, was Sie manchmal erzählen. Aber in einem hatte sie recht: Aton ist hier und ganz offensichtlich nicht aus freien Stücken.« Er drehte sich halb zur Seite, so daß er Petach und Aton zugleich ansehen konnte.
»Was hat er mit dir gemacht?« fragte er. »Keine Angst - ich bin jetzt bei dir. Er kann dir nichts mehr tun.«
Bevor Aton antworten konnte, mischte sich Yassir ein. »Petach«, sagte er scharf. »Wir haben keine Zeit für diesen Unsinn. Die Sonne geht unter!« Er machte einen Schritt in ihre Richtung, und Atons Vater zog aus der Jackentasche eine kleine Pistole hervor, die er auf den Ägypter richtete.
»Keinen Schritt weiter«, sagte er. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber ich schwöre Ihnen, daß ich Sie niederschießen werde, wenn Sie auch nur noch einen einzigen Schritt machen.« Ohne Yassir aus den Augen zu lassen, machte er eine Bewegung zu Sascha.
»Gehen Sie ans Funkgerät. Rufen Sie die Polizei. Ich passe inzwischen auf die beiden auf.«
Yassir zog eine Grimasse. Petach schüttelte seufzend den Kopf, und Sascha - rührte sich nicht von der Stelle.
»Worauf warten Sie?« fragte Atons Vater unwillig. »Ich kann die beiden nicht ewig in Schach halten.«
»Das wird auch nicht nötig sein«, sagte Petach. Er hob die Hand und trat auf Atons Vater zu, und dieser schwenkte seine Waffe herum und richtete sie nun direkt auf Petachs Gesicht.
»Keinen Schritt näher!« drohte er. »Ich meine es ernst!«
»Nein«, sagte Petach. »Das meinen Sie nicht.« Und damit machte er einen weiteren Schritt, streckte den Arm aus und nahm Atons Vater ruhig die Pistole aus der Hand. »Sie können nicht auf einen Menschen schießen«, sagte er.
Atons Vater starrte die kleine Pistole, die nun plötzlich in Petachs Händen lag, fassungslos an. »Aber ... aber wie -?« stotterte er.
»Die wenigsten können das. Es ist nicht so leicht, zu töten, wie Sie vielleicht glauben«, fuhr Petach fort. Er drehte die Pistole in den Händen und betrachtete sie interessiert - und dann gab er sie Atons Vater mit einem Achselzucken zurück.
»Stecken Sie sie ein«, sagte er. »Sie brauchen sie nicht.«
Atons Vater blickte Petach vollkommen verdattert an, dann steckte er die Waffe tatsächlich wieder in die Tasche zurück, aus der er sie hervorgezogen hatte.
»Das war nicht sehr klug von Ihnen«, sagte Petach, nunmehr an Sascha gewandt. »Wenn ich auch zugeben muß, daß ich Ihren Einfallsreichtum bewundere. Trotzdem - warum haben Sie das getan?«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Aton nicht allein lassen werde«, antwortete Sascha. Um ihre Worte zu unterstreichen, trat sie an Atons Seite.
»Sie wissen, daß Sie ihm nicht helfen können«, sagte Petach.
»Was zum Teufel geht hier überhaupt vor?« meldete sich Atons Vater wieder zu Wort. Er wirkte noch immer verwirrt - was Aton nur zu gut verstehen konnte. Schließlich war es vielleicht nicht das erste Mal, daß er Petachs unheimlichen Suggestivkräften erlag, aber wohl das erste Mal, daß er es merkte. Und es bedeutete wohl für jeden Menschen einen Schock, begreifen zu müssen, daß es jemanden gab, der einen mühelos zwingen konnte, Dinge zu tun, die man gar nicht tun wollte.
»Ich wollte, ich hätte die Zeit, es Ihnen zu erklären«, antwortete Petach. »Aber ich habe sie nicht. Sie müssen gehen - sofort. Steigen Sie in Ihre Flugmaschine und fliegen Sie weg, ehe die Sonne untergeht. Sie werden morgen früh alles erfahren, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich werde nirgendwo hingehen ohne Aton«, antwortete sein Vater entschlossen.
»Er hat recht, Vater«, sagte Aton.
Diesmal hörte sein Vater. Überrascht fuhr er herum. »Wie?«
»Er hat mich nicht entführt«, sagte Aton. »Jedenfalls nicht ... nicht so, wie du glaubst. Ich bin freiwillig hier. Und er sagt die Wahrheit. Du mußt weg. Du bist in großer Gefahr - und nicht nur du.«
»Was soll das heißen?« fragte sein Vater scharf.
»Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber du mußt zurück zur Baustelle«, fuhr Aton fort.
Er sah die immer größer werdende Verwirrung auf den Zügen seines Vaters und gab sich Mühe, mit so ernster und eindringlicher Stimme fortzufahren, wie er nur konnte:
»Bitte, glaub mir, daß ich die Wahrheit sage. Du ... du mußt zur Baustelle, um die Menschen dort zu warnen. Sie müssen auf der Stelle diesen Platz verlassen. Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, darf niemand mehr in der Nähe des Staudammes sein, oder es passiert ein schreckliches Unglück. Petach und ich sind hier, um es zu verhindern, aber ich bin nicht sicher, daß es uns gelingt.«
»Blödsinn!« widersprach sein Vater. Seine Stimme und sein Blick wirkten unsicher, aber Aton spürte trotzdem, daß er nicht auf ihn hören würde - und wie konnte er auch?
»Uns bleibt keine Zeit mehr«, sagte Petach noch einmal. »Bitte gehen Sie - schnell.«
»Ich sagte bereits, ich werde -«, begann Atons Vater, da unterbrach ihn Yassir mit leiser, ruhiger Stimme:
»Es ist zu spät.«
Aton, Petach und auch Sascha fuhren erschrocken herum - und sie sahen alle drei im selben Moment, was der Ägypter gemeint hatte.
Die Dämmerung war hereingebrochen, während sie redeten. Der Himmel war noch hell, aber am Fuß der gewaltigen Sandsteinmauern, die das Tal begrenzten, hatten sich schwarze Schlagschatten gebildet, und in diesen Schatten ... war etwas. Keiner von ihnen konnte genau erkennen, was, aber es war da, und es bewegte sich, und es kam näher.
»Was ist das?« flüsterte Atons Vater erschrocken.
»Steigen Sie in den Helikopter!« sagte Petach. Seine Stimme klang hastig, und Furcht lag in ihr. »Schnell, solange Sie es noch können!«
Atons Vater rührte sich nicht. Sein Blick hing wie gebannt an den formlosen Umrissen, die in den Schatten der Felsen heranwuchsen und mit jeder Sekunde deutlicher wurden. Und vermutlich wäre es ohnehin zu spät gewesen, denn genau in diesem Moment berührte der Schatten der Felswand den Helikopter, und Augenblicke später war auch die Maschine von formlosen, geisterhaften Konturen umgeben, die weniger Substanz als feste Körper hätten, aber mehr waren als Schatten.