»Schnell!« drängte Petach. Aton hatte noch immer keine Ahnung, was der Ägypter eigentlich von ihm erwartete, aber er trat ohne zu Zögern an ihm vorbei - und durch die Tür hindurch. Er spürte nichts. Keinen Widerstand, keine unsichtbare Kraft, die ihn zurückhalten wollte. Verblüfft drehte er sich zu Petach und den anderen herum und winkte ihnen, aber das unheimliche Geschehen wiederholte sich: Weder Petach noch sein Vater oder die beiden anderen waren in der Lage, ihm zu folgen.
Dafür erblickte er etwas, was ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: Hinter der Biegung des Ganges erschien die Sphinx. Sie war so groß und bot einen so furchteinflößenden Anblick wie in seinem Traum, aber diesmal war es kein Traum. Das Ungeheuer war wirklich, und es raste mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes heran. Als es Petach und die anderen erblickte, stieß es ein markerschütterndes Brüllen aus.
Aton reagierte ganz instinktiv, ohne über das nachzudenken, was er tat. Während Petach und die anderen herumfuhren und sich auf ihren Gesichtern das blanke Entsetzen ausbreitete, streckte er die Hand aus, ergriff Saschas Arm und zerrte sie zu sich herein.
Es ging. Das unsichtbare Hindernis war nicht mehr da. Aton hatte alle Kraft in diese Bewegung gelegt, darauf gefaßt, gegen irgendeine Art von Widerstand ankämpfen zu müssen, und so verlor Sascha durch den plötzlichen Ruck das Gleichgewicht, stolperte ungeschickt gegen ihn und hätte auch ihn fast zu Fall gebracht. Sie taumelten zwei Schritte von der Tür zurück, ehe es Aton endlich gelang, sie loszulassen und seine Balance wiederzufinden. Sofort war er wieder bei der Tür und streckte die Hände nach Yassir aus, der dem Eingang am nächsten stand. Während er ihn zu sich hereinzog, kam die Sphinx unerbittlich näher. Petach hatte beide Arme in die Höhe gerissen und machte jene beschwörende Geste, mit der er das Ungeheuer auch damals zurückgehalten hatte, aber diesmal hatte sie nicht die beabsichtigte Wirkung, die Sphinx zu stoppen. Ihr Vormarsch wurde zwar langsamer, und Aton konnte sehen, wie auch sie gegen einen plötzlichen, unsichtbaren Widerstand ankämpfte, aber sie kam näher. Nur noch ein paar Sekunden, und sie würde Petach und seinen Vater erreicht haben.
Auch Yassir hatte den Durchgang passiert. Atons Vater hatte seinen Schock mittlerweile zumindest soweit überwunden, daß er sich wohl daran erinnerte, nicht ganz wehrlos zu sein, denn er hatte seine Pistole gezogen und legte auf die Sphinx an.
Aton wußte, wie wenig die Waffe gegen diesen Dämon auszurichten imstande war, aber er verschwendete keine Zeit darauf, seinem Vater eine Warnung zuzurufen. Er stand zu weit vom Eingang entfernt, als daß er ihn erreichen konnte, also sprang er mit einem Satz wieder in den Stollen hinaus, ergriff seinen Vater von hinten an den Schultern und zerrte ihn mit sich. Im gleichen Moment drückte dieser ab.
In der Enge des Stollens klang das Geräusch der Pistole wie ein Kanonenschuß. Die Kugel traf das Ungeheuer, aber sie hatte nicht die Kraft, es zu verletzen. Funkensprühend prallte sie von seinem steinernen Leib ab, fuhr gegen die Decke und von dort aus heulend und als gefährlicher Querschläger im Zickzack durch den Gang.
Zu einem zweiten Schuß kam Atons Vater nicht. Rücklings stolperten sie durch die Tür, und Aton stürzte gleich wieder durch den Ausgang und griff nach Petach.
Er schaffte es nicht ganz. Seine ausgestreckten Hände berührten den Ägypter, und obwohl sich Petach völlig auf die Sphinx konzentriert hatte, schien er doch mitbekommen zu haben, was hinter ihm vorging, denn er sprang sofort rückwärts, so daß er Aton mehr durch die Tür hindurchstieß, als dieser ihn zog. Aber so schnell sie auch waren, die Sphinx war eine Winzigkeit schneller. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie in Sicherheit waren, versetzte sie Petach einen kraftvollen Tatzenhieb. Der Ägypter schrie auf, wurde von den Füßen gerissen und gegen die Wand geschleudert. Stöhnend und blutüberströmt brach er zusammen, Aton ergriff Petach und zerrte ihn mit verzweifelter Kraft in Sicherheit. Die Sphinx raste brüllend an ihnen vorbei, und noch bevor sie kehrtmachen und zu einem zweiten Angriff ansetzen konnte, hatte Aton Petach vollends durch die Tür gezogen, und sie waren gerettet.
Sein Vater half ihm, Petach noch ein Stück weiter in den Raum zu ziehen und auf den Rücken zu drehen. Ein Gefühl eisigen Entsetzens breitete sich in Aton aus, als er sah, wie schwer der Ägypter verletzt war. Der Krallenhieb der Sphinx hatte sein Gesicht und seine rechte Schulter zerschmettert, und er verlor unglaublich viel Blut. Daß er überhaupt noch lebte, schien ein wahres Wunder.
»Mein Gott!« sagte sein Vater. »Das ist ja furchtbar. Wir ... wir müssen ihm irgendwie ... helfen.«
»Lassen Sie ihn«, sagte Yassir. Er war näher gekommen und hatte sich über Atons Schulter gebeugt, um auf Petach hinuntersehen zu können, und auf seinem Gesicht zeigte sich weder Schrecken noch Mitgefühl.
Atons Vater fuhr auf. »Was soll das heißen?« fuhr er Yassir an. »Wir können -«
»- nicht das geringste für ihn tun«, unterbrach ihn Yassir ruhig. »Und es gibt etwas Wichtigeres.« Er sah Aton an. »Du weißt, was zu tun ist?«
Aton war nicht ganz sicher, ob er Yassir verstand. Im Grunde wußte er überhaupt nichts - nicht einmal, wo sie wirklich waren. Die erwartete Grabkammer jedenfalls erwies sich nur als kurzer, staubiger Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Zugleich aber spürte er, daß er es wissen würde, wenn es soweit war. Unter den entsetzten Blicken seines Vaters stand er auf, drehte sich herum und ging auf die Tür zu.
»Aber wir ... wir können ihn doch nicht einfach hierlassen!« protestierte sein Vater. Er deutete auf Petach zurück. »Er stirbt!«
»Das macht nichts«, sagte Sascha gelassen. »Darin hat er Übung. Er macht das öfter.«
Aton sah, wie sich ein flüchtiges Lächeln auf Yassirs Gesicht ausbreitete, als er die Fassungslosigkeit seines Vaters bemerkte, aber der Ägypter wurde sofort wieder ernst und trat wortlos neben ihn und wartete, bis Aton die Tür durchschritt und in den dahinterliegenden Raum trat.
Und seinen Irrtum erkannte. Er hatte nicht vergessen, wie dieses Grab aussah. Er war schon einmal hiergewesen, und er hatte sich daran erinnert, die ganze Zeit über schon. Er hatte es nur nicht gewußt.
Vor ihm lag die gewaltige, pyramidenförmige Höhle, in deren Mitte sich der künstliche See mit dem Pharaonengrab befand. Die Illusion, die er damals auf dem Flughafen gehabt hatte, war keine gewesen, sondern eine Rückkehr zu jenem schicksalhaften Tag vor zehn Jahren, an dem er Echnatons Grab das erste Mal betreten hatte.
Der Anblick war gigantisch, unfaßbar und erschreckend zugleich, denn es war das Grab aus seiner Erinnerung und gleichzeitig auch nicht. Es hatte sich verändert. Die drei Jahrtausende, die seit seiner Erschaffung verstrichen waren, hatten das Bild eingeholt. Statt goldener Pracht sah Aton überall Verfall und Zerstörung, statt schimmerndem Metall und Edelsteinen Staub und Trümmer. Die Statuen, die Alabasterkrüge und die vielen anderen Gegenstände, die längs der einwärts geneigten Wände aufgereiht waren, lagen zerstört da, und aus der Decke waren tonnenschwere Steine gebrochen und niedergestürzt. Der künstliche See war ausgetrocknet. Anstelle der schimmernden Wasserfläche befand sich nun ein tiefes, gemauertes Becken mit schlammigem Grund, von dem ein übler Geruch aufstieg, und selbst über die große Entfernung hinweg konnte Aton sehen, daß auch die künstliche Insel in seiner Mitte nur mehr ein Trümmerfeld war.
Trotzdem schlug ihn der Anblick so sehr in seinen Bann, daß er einfach dastand und sich umsah. Auch Verfall und Zerstörung konnten etwas Großartiges haben, begriff er plötzlich, denn auch sie gehörten zum natürlichen Verlauf der Dinge. Alles, was entstand, mußte irgendwann auch wieder vergehen, dies war vielleicht das unerschütterlichste Gesetz der Natur. Diese Erkenntnis war sehr wichtig. Wichtig für ihn und wichtig für das, weswegen sie gekommen waren, denn vielleicht war dies der eigentliche, wirkliche Grund seines Hierseins. Was Echnaton getan hatte, war mehr als die Rache eines sterbenden Mannes an seinem Mörder gewesen. Er hatte in den natürlichen Verlauf von Werden und Vergehen eingegriffen und damit an Dinge gerührt, die selbst die Götter nicht ändern durften, und sie waren hier, um diesen Frevel wiedergutzumachen. Nicht um es aufzuhalten, wie Petach glaubte. Das konnten sie nicht. Aton erkannte plötzlich mit einer Klarheit, die keinen Zweifel zuließ, daß sie diese Chance niemals gehabt hatten. Keine Macht dieser Welt würde verhindern können, was in dieser Nacht geschah. Echnatons Prophezeiung würde sich erfüllen, ganz gleich, wie sehr sie auch dagegen ankämpften.