Es wurde jetzt rasch hell, und als die Sonne als rotglühender Ball über den Horizont kroch, da erkannte Aton deutlich die dunklen Körper, die das Wasser aus dem Wüstenboden herausgespült hatte.
Obwohl er wußte, was er vor sich hatte, fiel es ihm schwer, sie als das zu identifizieren, was sie waren. Viele waren vom Wasser beschädigt, einige auch ganz in Stücke gebrochen, und kaum einer war noch als Mensch zu erkennen; jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber das waren sie: Echnatons Krieger, die von der künstlichen Flut, die Aton ausgelöst hatte, aus ihren Gräbern geholt worden waren. Sie waren alle da. Er mußte sie nicht zählen, um zu wissen, daß es hundertdreißig waren. Echnatons Leibgarde, die an dieser Stelle vor dreitausenddreihundert Jahren unter den Waffen ihrer Mörder gefallen war und seither auf den Tag ihres Auferstehens wartete.
Er war gekommen. Die Nacht war zu Ende, und obgleich man die Sterne jetzt nicht mehr sah, waren sie doch da, und sie standen in der richtigen Position. Die unheilige Macht, die Osiris, Horus und das Udjatauge entfesselt hatten, begann ihre Wirkung zu tun. Es war so, wie Petach gesagt hatte: Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. Sie erwachten. Jetzt.
Zuerst war es fast unmerklich. Nicht einmal Aton war sicher, ob er die Bewegung wirklich bemerkte oder ob er sie nur zu sehen glaubte, weil er darauf wartete: ein kleines Regen hier, das mühsame Heben einer Hand dort, das Drehen eines Kopfes, dessen Gesicht zum ersten Mal nach drei Jahrtausenden wieder dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Aton konnte die finsteren Mächte, die das Heer der Toten beseelte, regelrecht spüren; als wäre das eine Art unsichtbarer Dunkelheit, die sich rings um ihn herum zusammenballte und sich wie ein Schatten über die Krieger legte.
Die Flutwelle hatte einige von ihnen zerstört. Manche vermochten sich nicht mehr zu erheben, anderen fehlten Gliedmaßen oder Köpfe, doch das alles änderte nichts daran, daß sich rings um Aton allmählich ein Heer mumifizierter Krieger aus dem Morast erhob, deren Gesichter mit leeren Augenhöhlen nach Osten blickten, in die Richtung, in der sie die Nähe der Menschen spürten, die ihre ersten Opfer werden sollten.
Und dann waren auch die anderen da. Lautlos und von einer Sekunde auf die andere erschienen Osiris, Horus und schließlich sogar Yassir neben Aton, und nach einer kurzen Weile traten noch mehr Gestalten aus den Schatten: Anubis, der Gott mit dem Hundekopf, dem Aton schon einmal begegnet war. Isis, Bastet und als allerletzter Petach, obwohl sich Aton nicht erinnern konnte, daß er aus dem Helikopter gestiegen wäre.
Keiner von ihnen sprach ein Wort, doch Aton spürte die Größe dieses Augenblicks. Etwas geschah. Etwas, was er nicht mit Worten, nicht einmal in Gedanken zu erfassen vermochte, das aber ungeheuer wichtig war und dessen bloßes Ahnen ihn schaudern ließ.
Lange standen die Götter schweigend im Kreis da, dann hob Osiris plötzlich seine Schattenhand und deutete auf einen der Krieger. Dieser bewegte sich träge. Er machte einen Schritt, dann noch einen, und die anderen erweckten Toten versuchten die Bewegung nachzumachen. Langsam wandte sich das ganze unheimliche Heer nach Osten. Den Hubschrauber, der nur wenige Schritte entfernt gelandet war, ignorierten sie - vielleicht eine letzte Gnade, die ihm Osiris gewährte, vielleicht auch, daß Petach seine unheimliche Macht ein letztes Mal einsetzte, um ihn und die Seinen zu schützen. Vielleicht war es auch so, wie Petach gesagt hatte: Was hier geschah, ging Aton und die Menschen seines Landes im Grunde nichts an.
Ganz langsam formierten sich die Krieger zu einer doppelten Kette, mit müden, ungelenken Bewegungen, als wäre die Zeit in ihren Gräbern zu lange gewesen, als daß sie sofort wieder die Kontrolle über ihre Körper zurückerlangten. Aber obwohl langsam, war ihr Voranschreiten doch zugleich unaufhaltsam. Nur Minuten vergingen, und der erste trat aus dem Schatten der Felswand heraus ins Licht der Morgensonne.
Trotz der Entfernung konnte Aton deutlich sehen, was geschah. Der Krieger war vor mehr als dreitausend Jahren gestorben, und sein Körper war von Sand und Hitze ebenso gründlich und zuverlässig mumifiziert worden, wie es die Priester mit den alten Pharaonen getan hatten.
Aber das Wasser hatte alles geändert. Sein Körper, ja selbst die ausgetrockneten Knochen hatten sich vollgesogen wie ein Schwamm, der Jahrtausende in der Wüstensonne gelegen hatte. Und als er ins Sonnenlicht hinaustrat, begann er zu zerfallen.
Die Macht des Gottes Aton trocknete ihn binnen Sekunden aus. Gesicht, Hände und Körper verloren ihre braune Farbe und bleichten aus, die mumifizierte Haut riß an tausend Stellen, und plötzlich war er von einer Wolke aus feinem grauem Staub umgeben, in den sich sein Körper zu verwandeln begann. Die Beine hatten nicht mehr die Kraft, ihn zu tragen. Hilflos kippte er nach vorne und zerfiel endgültig zu Staub. Nach einem Augenblick war die Stelle, an der er gestürzt war, nicht mehr vom Wüstenboden zu unterscheiden. Selbst Waffen waren verschwunden.
Dem zweiten Krieger erging es nicht anders und auch nicht dem dritten und vierten und allen, die ihnen folgten. Sobald sie ins Licht des Sonnengottes hinaustraten, begannen ihre Körper zu Staub zu zerfallen, der einen Moment in der Luft schwebte und sich dann wieder mit dem Wüstensand vereinigte, der ihm drei Jahrtausende lang Schutz und Heimat gewesen war.
Aton sah nicht zu, bis alle Krieger verschwunden waren. Er wußte, daß es geschehen würde, und irgendwie, tief in sich drinnen, hatte er es wohl die ganze Zeit über gewußt, denn woher hätte er sonst die Kraft nehmen sollen, trotz allem immer weiterzumachen? Es hatte gar nicht anders kommen können. Osiris mochte Macht über die Toten haben, und das Udjatauge verlieh ihm die Kraft, sie wiederzuerwecken. Aber das war es nicht, was Echnaton seinem Mörder prophezeit hatte.
Du sollst leben bis zu dem Tag, an dem ein Toter all diese Krieger wieder aus ihrer Ruhe erweckt! So hatte Echnatons Fluch geheißen, so und nicht anders. Und er, Aton, vielleicht der einzige Mensch, der jemals wirklich von den Toten zurückgekehrt war, hatte mit eigener Hand die Schleusen geöffnet, deren künstliche Sintflut sie aus ihren Gräbern hob.
Sein Blick suchte Yassir. Der Ägypter stand da und blickte ihn an, und Aton, der Triumph, zumindest Erleichterung auf seinen Zügen erwartet hatte, sah sich getäuscht: Yassir sah sehr traurig drein. Er sagte nichts, denn die Zeit des Redens war vorbei, aber Aton las das stumme Flehen um Vergebung in seinen Augen, und einen Moment, bevor das Leben darin erlosch, beantwortete er diese Bitte auf die gleiche, wortlose Art. Er verzieh Yassir. Er vergab ihm, weil er ihn verstand. Vielleicht hätte er an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Er konnte ihm nicht böse sein.
»Ich verzeihe dir«, sagte er laut. »Auch du wurdest belogen, Yassir. Du hättest keine Erlösung gefunden. Nur ich allein konnte tun, was Echnaton verlangt hatte. Die Magie des Auges hätte sie erweckt, aber den Fluch nicht gebrochen. Ich war es, der sie am Ende aus ihren Gräbern holen mußte, nicht du, nicht Osiris oder das Udjatauge. Nur ich hatte die Macht dazu. Und ich habe es getan. Du bist frei.«
Der Ausdruck von Schmerz auf Yassirs Gesicht wich einem Lächeln, und dann starb er. Die Zeit holte ihn ein. Binnen einer Sekunde alterte er um Jahrtausende, zerfiel vor Atons Augen zu einem Greis und schließlich zu Staub, noch bevor sein zusammenbrechender Körper zu Boden sank. Echnatons Fluch hatte sich erfüllt. Yassir - Eje - war endlich frei.
Und die anderen?
Aton sah auf und blickte nacheinander in die Gesichter der alten ägyptischen Götter - in das geheimnisvolle Katzengesicht der Bastet, das er nun viel deutlicher erkannte als in der Dunkelheit des Friedhofes von Bubastis, in die sanften Züge der Isis, die nichts von der mütterlichen Wärme verloren hatten, die sich den Menschen schon vor drei Jahrtausenden zeigte, in die grausamen Vogelaugen des Horus, die ihn so aufmerksam und mißtrauisch musterten wie bei jeder Begegnung mit ihm, in das stolze Schakalgesicht des Anubis und schließlich in die wogenden Schatten, die das Antlitz des Osiris verbargen.