Der Wald! Von neuem Schrecken erfüllt, sah Aton nach rechts und links und stemmte sich in die Höhe.
Aber der Wald war wieder ein ganz normaler Wald. Dunkel, feucht und so unheimlich, wie ein Wald in einer mondlosen Nacht eben war - aber auch nicht mehr.
»Wo ist ... der Mann?« flüsterte er verwirrt.
Petach sah ihn fragend an. »Welcher Mann?«
»Der ... der Mann mit dem ...« Aton brach ab. Es war ihm plötzlich nicht möglich, weiterzusprechen. Er brachte es nicht über sich, Petach von dem Schatten und den glühenden Augen zu erzählen!
»Welcher Mann?« fragte Petach noch einmal. »Hier ist niemand.«
»Aber Sie müssen ihn doch gesehen haben«, protestierte Aton.
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte Petach. »Und hier war auch niemand.«
Aton starrte ihn fassungslos an. »Aber Sie -«
»Ich habe dich schreien gehört«, unterbrach ihn Petach mit einer energischen Handbewegung. »Gott sei Dank, möchte ich sagen. So dunkel, wie es hier ist, hätte ich stundenlang nach dir suchen können, ohne dich zu finden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir gesagt, du sollst beim Wagen bleiben«, sagte er. »Warum hast du nicht auf mich gehört? Dir hätte wer weiß was passieren können, ist dir das klar?«
Aton fühlte sich immer verwirrter, und zugleich kam die Angst zurück. Er wußte, daß er sich das alles - den Unheimlichen, den zweiten Schatten mit den glühenden Augen, die Geräusche und diesen furchtbaren Alptraumwald - nicht eingebildet hatte. Zögernd hob er die Hand und blickte auf sein zerschundenes Handgelenk hinunter. Seine Haut war mit Dutzenden winziger, nur nadelstichgroßer Wunden übersät, sein Knöchel brannte wie Feuer, und sein Wadenstrumpf war feucht und schwer von seinem eigenen Blut.
Und trotzdem wußte er, daß Petach ihm nicht glauben würde. Wie konnte er auch?
»Kannst du gehen?«
Aton nickte wortlos und betastete seinen schmerzenden Hals, griff dann aber nach Petachs hilfreich ausgestreckter Hand und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen.
Aber er sagte kein Wort mehr, sondern humpelte mit zusammengebissenen Zähnen und schwer auf Petachs Arm gestützt zum Wagen zurück. Und er protestierte auch mit keinem Wort mehr, als Petach ihm auf den Beifahrersitz half und sich ganz allein daranmachte, den geplatzten Vorderreifen zu wechseln.
Anubis
Es war spät in der Nacht, als sie das Haus erreichten, in dem Atons Eltern lebten. Petach hatte den Wagen bis zur Autobahn gelenkt und war dort auf den ersten Parkplatz gefahren, um mit zwei Mullbinden und einigen Streifen Heftpflaster die blutigen Schrammen an Atons Hand- und Fußgelenken mehr schlecht als recht zu verbinden, danach waren sie, ohne noch einmal anzuhalten, durchgefahren. Trotzdem hatte der Zeiger der Uhr am Instrumentenbrett des Mercedes die Zwei schon lange hinter sich gelassen, als sie an ihrem Ziel angekommen waren.
Das Haus lag in völliger Dunkelheit da. Petach parkte den Wagen direkt vor der Tür und hupte dreimal hintereinander - das Gebäude lag inmitten eines großen Gartens, so daß es keine Nachbarn gab, die er damit hätte stören können - und öffnete den Wagenschlag, machte aber eine rasche Bewegung, als Aton ebenfalls aussteigen wollte. »Warte hier«, sagte er. »Ich sehe nach, ob deine Eltern zu Hause sind.«
Warum um alles in der Welt holte Petach ihn eine Woche vor den Weihnachtsferien ab, wenn er nicht einmal wußte, ob seine Eltern überhaupt da waren? Verwirrt beobachtete Aton, wie Petach die wenigen Stufen zur Haustür hinaufeilte und den Klingelknopf drückte.
Es verging eine geraume Weile, bis drinnen im Haus Licht anging und die Tür geöffnet wurde; nur einen Spaltbreit, so weit es die stets vorgelegte Sicherheitskette zuließ. Das Haus war nicht nur das Wohnhaus seiner Eltern, sondern beherbergte auch das kleine Privatmuseum, in dem sich Stücke von unschätzbarem Wert befanden.
Diese Kette war nur eine von zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen, die sein Vater auf Anraten der Polizei nach einem Einbruch vor einigen Jahren angebracht hatte. Das nach außen hin zwar große, aber eher unauffällige Landhaus war in Wirklichkeit eine Festung, die zu betreten gegen den Willen seiner Bewohner beinahe unmöglich war. Es zu verlassen übrigens auch.
Aton sah, wie Petach mit jemandem sprach, dann wurde die Tür geschlossen und in der nächsten Sekunde gänzlich aufgerissen, und er sah den Umriß seines Vaters gegen das helle Neonlicht des Flures. Aton öffnete die Wagentür und ging zum Haus hinauf.
»Mein Junge!« begrüßte ihn sein Vater, auf dessen Gesicht noch ein überraschter Ausdruck lag. Er kam ihm einen Schritt entgegen, blieb aber dann wieder stehen und wandte sich an Petach.
»Sosehr ich mich freue, meinen Sohn zu sehen«, sagte er in ärgerlichem Tonfall, »ich verstehe nicht ganz, was das bedeuten soll, geschätzter Kollege.«
Petach machte eine Handbewegung. »Nun, ich war ohnehin in der Nähe, und da ich weiß, daß Ihr Sohn in einigen Tagen sowieso nach Hause gekommen wäre, hielt ich es für eine gute Idee, ihn gleich mitzubringen. Immerhin sind es sechs oder sieben Stunden Fahrt für Sie - und das gleich zweimal. Ich dachte, es wäre Ihnen recht.«
Atons Vater sah aus, als würde er jeden Moment explodieren. Aber er beherrschte sich noch. »Sie hätten mich zumindest informieren können«, sagte er. »Es ist reiner Zufall, daß wir überhaupt zu Hause sind. Und Aton verliert eine Woche Schulzeit.«
Petach machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bei seinem Notendurchschnitt spielt das wohl kaum eine Rolle.«
»Und Direktor Zombeck war damit einverstanden«, ergänzte Aton.
Sein Vater blinzelte. Er kannte Direktor Zombeck - daß er einem Schüler freiwillig auch nur eine Stunde erließ, war schier unmöglich. Aber auf der anderen Seite kannte er auch seinen Sohn und wußte, daß Aton nicht log. Schließlich hob er mit einem resignierenden Seufzen die Schultern und deutete zum Haus.
»Gehen wir erst mal rein«, sagte er. »Es ist kalt. Laßt uns drinnen weiterreden.«
Sie betraten das Haus, und Aton steuerte ganz gewohnheitsmäßig das Kaminzimmer an, das Wohnraum und Bibliothek zugleich war und fast das gesamte Untergeschoß des Hauses beherrschte.
»Aton, warte«, rief ihm sein Vater nach - aber die Warnung kam zu spät. Etwas Schwarzes, ungemein Großes schoß plötzlich um die Ecke, baute sich vor Aton auf und musterte ihn aus dunklen Augen. Das Ungeheuer aus dem Wald! Es war gekommen, um ihn zu holen!
»Er tut dir nichts«, sagte sein Vater. »Er will nur mit dir spielen, das ist alles.« An den Hund gewandt und in strengem Tonfall fügte er hinzu: »Er ist ein Freund. Hörst du? Ein Freund.«
Aton sah seinen Vater zweifelnd an, und dann fiel sein Blick auf Petach. Das Gesicht des Ägypters zeigte einen angespannten Ausdruck. »Wie haben Sie den Hund genannt?« fragte er langsam. »Anubis?«
»Ich fand, der Name paßt zu seinem Aussehen«, bestätigte Atons Vater. »Gefällt er Ihnen nicht?«
»Wer?« fragte Petach ausweichend. »Der Name oder der Hund?«
»Beides«, antwortete Atons Vater. Er klang schon wieder leicht verärgert.
»Es ist ein prachtvolles Tier«, sagte Petach ausweichend. »Nur ...«
»Seit wann haben wir einen Hund?« fragte ihn Aton. Seine Furcht vor dem Dobermann verschwand.
»Seit das letzte Mal eingebrochen wurde«, antwortete sein Vater.
»Eingebrochen?« Aton erschrak. »Wieso -?«
»Es ist nichts passiert«, sagte sein Vater und machte eine beruhigende Geste. »Die Alarmanlage hat sie verscheucht. Deine Mutter und ich waren nicht zu Hause. Aber trotzdem ... Solche Leute sind unberechenbar. Möglicherweise kommen sie wieder, oder es kommen andere, die sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Jedenfalls habe ich mich mit der Polizei beraten, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß ein guter altmodischer Wachhund vielleicht immer noch das sicherste Mittel ist, Langfinger abzuschrecken.«