»Ist er deshalb so schlecht gelaunt?« fragte Aton.
Er schien einen wunden Punkt bei seiner Mutter getroffen zu haben, denn ihr Gesicht verdüsterte sich. »Weißt du«, begann sie langsam. »Es gibt Probleme auf der Baustelle.«
Aton begriff. Seine Mutter sprach von dem Staudamm, an dessen Konstruktion und Bau sein Vater seit gut fünf Jahren maßgeblich mitwirkte. Probleme hatte es dabei vom ersten Tag an gegeben, und Aton hatte genug von der Arbeit seines Vaters aufgeschnappt, um zu wissen, daß es sie auch bis zum letzten Tag geben würde. Bei einem Projekt dieser Größe konnte einfach nicht alles klappen, das war beinahe ein Naturgesetz. Aus diesem Grund war ihm auch sofort klar, daß es sich jetzt um etwas ganz Spezielles handeln mußte.
»Große Probleme?« fragte er.
Seine Mutter nickte. Sie sah ihn nicht an. »Wir werden nach Ägypten fliegen müssen«, sagte sie. »Und so, wie es im Moment aussieht, wird es eine ganze Weile dauern, bis wir zurückkommen. Wochen, wenn nicht Monate.«
»Das heißt, daß wir Weihnachten wieder einmal in der Wüste feiern«, seufzte Aton. Der Gedanke erfüllte ihn nicht unbedingt mit Begeisterung. Er hatte sich darauf gefreut, ein besinnliches Weihnachtsfest mit seinen Eltern zu verbringen, so richtig altmodisch, mit Tannenbaum, Schnee und allem, was dazugehörte. Andererseits - drei Wochen Ägypten waren auch nicht zu verabscheuen. Wenigstens hatte er etwas zu erzählen, wenn er ins Internat zurückkehrte.
Dann begegnete er dem Blick seiner Mutter - und begriff schlagartig, daß sie ihm die wirklich schlechte Neuigkeit noch gar nicht verraten hatte. Plötzlich spürte er einen bitteren Kloß im Hals.
»Ich ... kann nicht mit«, sagte er leise. »Nicht wahr?«
»Ja«, antwortete seine Mutter. »Du mußt das verstehen. Es gibt wirklich große Schwierigkeiten, Aton. Ich weiß auch noch nichts Genaues. Es scheint auch um Politik zu gehen. Du kannst auf gar keinen Fall mitkommen. Dein Vater wollte nicht einmal, daß ich ihn begleite.«
»Aber es ist Weihnachten!« protestierte Aton. Der Kloß in seiner Kehle wurde größer und schien jetzt Stacheln zu haben. Seine Augen brannten. Er hielt die Tränen mit aller Macht zurück, aber natürlich sah seine Mutter sie trotzdem.
»Bitte, Aton, versuch das zu verstehen«, sagte sie.
Sie griff nach seiner Hand, und für einen Moment mußte Aton gegen den Impuls ankämpfen, sie zurückzuziehen. Er tat es letztlich nicht, aber auch das entging ihr nicht, und sie nahm ihre Hand traurig von selbst zurück.
»Es wird nicht nur anstrengend, es kann durchaus gefährlich werden. Wir können dich unmöglich mitnehmen. Wenn dir etwas zustoßen würde ...«
»Warum geht ihr dann?« fragte Aton. »Wenn es gefährlich wird -«
»Ich sagte, es kann gefährlich werden«, unterbrach ihn seine Mutter sanft. »Und dein Vater muß gehen, das weißt du doch. Er hat nun einmal eine verantwortliche Stellung. Er verdient sehr viel Geld an diesem Projekt, und für seine Firma stehen unzählige Millionen auf dem Spiel. Außerdem - du weißt, wie er ist. Dieser Staudamm ist sein Leben.«
Sie sprach nicht weiter, obwohl es sicherlich noch tausend Dinge gegeben hätte, die sie hätte sagen können. Doch wozu? Es war Weihnachten, und er war zu Hause und würde morgen oder spätestens übermorgen wieder abreisen und die Feiertage im Internat oder bei irgendeinem Verwandten verbringen, so einfach war das.
»Hat Zombeck das gewußt?« fragte er.
»Nein«, antwortete seine Mutter. »Ich wollte ihn anrufen, aber dein Vater war dagegen. Wäre Petach nicht gekommen, dann wären wir morgen nach Stuttgart geflogen, um es dir selbst zu sagen. Es tut mir unendlich leid, aber ... du kannst nicht mitkommen. Wir haben schon mit Großmutter gesprochen. Du kannst die Ferien bei ihr verbringen, wenn du willst. Oder bei Tante Sophie.«
»Oder im Internat«, sagte Aton bitter.
»Bitte, Aton«, seufzte sein Mutter. »Ich verstehe dich ja, aber ...« Sie sah ihn traurig an und stand dann wortlos auf, um wieder zum Herd zu gehen.
Während sie die Tassen aus dem Schrank nahm, drehte sich Aton zum Fenster und starrte in den dunklen Garten hinaus. Er spürte, daß er die Tränen nun wirklich nicht mehr zurückhalten konnte.
Für einen Moment haßte er diesen verdammten Staudamm und dieses ganze verdammte Ägypten, das ihm seine Eltern gestohlen hatte und ihm jetzt auch noch diese Ferien nahm. Aber er wußte auch, wie dumm dieser Gedanke war und wie falsch. Der Staudamm konnte nichts dafür, daß irgendeine Regierung beschlossen hatte, ihn zu bauen, und das Land konnte nichts dafür, daß sein Vater für den Bau dieses Jahrhundertwerkes verantwortlich war - sowenig, wie sein Vater im Grunde etwas dafür konnte, daß ihn dieses Land und seine Geschichte zeit seines Lebens über die Maßen fasziniert hatte. Niemand konnte aus seiner Haut.
Trotzdem tat es weh. Er hatte sich ein halbes Jahr lang darauf gefreut, nach Hause zu kommen. Und jetzt das! Es war ... einfach nicht gerecht!
Etwas Weiches, Kühles berührte seine Hand. Aton blickte hinunter - und zuckte zusammen, als er sah, daß es der Hund war. Anubis war trotz seiner Größe vollkommen lautlos näher gekommen und hatte ihn mit der Nase angestubst. Hätte Aton es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, einen verständnisvollen Ausdruck in den Augen des Hundes zu erblicken. Es war, als spürte das Tier, was in ihm vorging, und wäre zu ihm gekommen, um ihn zu trösten.
»Ein lieber Kerl, nicht?« sagte seine Mutter. Sie hatte den Tee fertig und stellte eine Tasse vor ihn auf den Tisch.
»Hm«, machte Aton.
»Ich weiß, er sieht furchteinflößend aus«, fuhr sie fort und kraulte den Hund hinter den Ohren, »aber er ist der bravste Hund, der mir je begegnet ist. Außer wenn man ihm befiehlt, jemanden anzugreifen - dann möchte ich nicht in dessen Haut stecken.«
»Das tut derjenige dann wahrscheinlich auch nicht mehr lange«, sagte Aton.
Seine Mutter lächelte flüchtig, obwohl sie Scherze dieser Art normalerweise gar nicht mochte, und drehte sich dann wieder zum Herd. »Ich bringe deinem Vater und Herrn Petach auch eine Tasse«, sagte sie. »Sie werden sie brauchen. Außerdem will ich mich davon überzeugen, daß Vater nicht zu weit geht. Schließlich hat es Herr Petach nur gut gemeint.«
Sie stellte zwei Tassen und die Kanne auf ein Tablett, streichelte noch einmal über Anubis' Kopf und ging schnell aus der Küche. Aton sah ihr aus brennenden Augen nach. Plötzlich hatte er Lust, laut loszuheulen, und vielleicht hätte er es tun sollen, denn danach hätte er sich bestimmt besser gefühlt. Aber er tat es nicht - er war fünfzehn und somit in einem Alter, in dem er noch glaubte, es wäre ein Zeichen unbedingter Männlichkeit, jeden Schmerz klaglos zu ertragen.
Er sah auf Anubis, und wieder verspürte er einen raschen, eisigen Schauder. Der Hund stand einfach nur da, reglos, mit wachsam aufgestellten Ohren und auf die Seite gelegtem Kopf und sah ihn an, und er war schlicht und einfach ein Hund, ganz bestimmt nicht mehr. Und doch ... tief, tief in seinen goldgelben Augen glomm ein Feuer, das dort nicht hingehörte.
Und da war noch etwas.
Seine Mutter hatte den Hund gestreichelt, ehe sie hinausging, mit einer ganz beiläufigen, selbstverständlichen Bewegung, mit der man eben einen Hund streichelte, den man mochte, ohne sich viel dabei zu denken.
Nur: Seine Mutter konnte Hunde nicht ausstehen.
Die Katastrophe
Der Tag war anstrengend gewesen. Und so war es kein Wunder, daß Aton auch am nächsten Morgen verschlief; und diesmal gründlich. Vermutlich hätte er nicht nur das Frühstück, sondern auch noch das Mittagessen verschlafen, wäre er nicht von einer rauhen Zunge geweckt worden, die ihm kreuz und quer über das Gesicht schlabberte.
Aton setzte sich mit einem Ruck auf, schob mit der linken Hand den Hund von sich weg und fuhr sich mit der anderen über Stirn und Wangen. Anubis' Zunge war ungefähr so groß wie ein Waschlappen und mindestens genauso naß.