Aton gähnte. Trotz der vielen Stunden, die er geschlafen hatte, fühlte er sich nicht im geringsten ausgeruht. Er hätte sich auf der Stelle wieder herumdrehen und weiterschlafen können, aber ein einziger Blick auf Anubis machte ihm klar, daß der Hund das nicht zulassen würde. So schwang Aton widerwillig die Beine aus dem Bett, schauderte, als seine nackten Fußsohlen den kalten Boden berührten, und zog die Beine rasch wieder an.
Das ganze Bett wackelte, als Anubis mit einem Satz hinaufsprang. Aton drehte sich mürrisch zu dem Hund herum, um ihn wegzuscheuchen - aber er war nicht schnell genug. Anubis prallte wie ein lebendes Geschoß gegen ihn, und Aton verließ die verlockende Wärme seines Bettes endgültig und auf völlig andere Weise, als er beabsichtigt hatte: mit einem halben Salto nach vorne nämlich.
Als er sich wieder aufrappelte, hockte Anubis genau dort, wo er gerade gesessen hatte, und grinste unverschämt auf ihn hinunter. Natürlich grinste er nicht wirklich; schließlich können Hunde nicht grinsen. Aber trotzdem hätte Aton in diesem Moment Stein und Bein geschworen, daß die Lefzen des Dobermanns zu einem hämischen Grinsen hochgezogen waren.
So oder so - an Schlafen war jedenfalls nicht mehr zu denken. Und übrigens war es dafür auch viel zu spät, wie Aton mit einem raschen Blick auf den Wecker feststellte. Beinahe elf. Er wunderte sich, daß seine Mutter ihn nicht längst aus dem Bett gescheucht hatte.
Widerwillig trottete Aton ins Bad, wusch sich flüchtig (schließlich hatte den Großteil bereits Anubis erledigt) und kehrte in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Der Hund folgte ihm wie ein lautloser, schwarzer Schatten, ohne ihn jedoch erneut mit seinen feuchten Freundlichkeitsbezeugungen zu belästigen. Aber als Aton sich auf die Bettkante setzte, um in die Socken zu schlüpfen, stieß er ein leises Knurren aus.
»Ja, ja, ist ja gut«, sagte Aton hastig. »Reg dich nicht auf. Ich ziehe mir nur Strümpfe an. Hier, siehst du?« Er wedelte mit seiner rechten Socke vor Anubis' Schnauze herum. Der Hund schnüffelte daran und wich mit einem leisen Winseln zwei Schritte zurück.
Im ersten Moment konnte sich Aton eines Grinsens nicht erwehren - aber zugleich verspürte er schon wieder ein sanftes Gruseln. Auch wenn ihm der Hund jetzt, im hellen Licht des Tages, nicht mehr so unheimlich vorkam wie gestern - irgend etwas war mit ihm nicht so, wie es sein sollte.
Aton schüttelte den Gedanken ab, zog sich rasch zu Ende an und verließ sein Zimmer. Anubis folgte ihm. Und er grinste. Aton war sicher, daß er grinste.
Als er die Treppe hinunterging, hörte er den Fernseher im Wohnzimmer. Erstaunt blieb er stehen. Daß das Gerät um diese Uhrzeit bereits lief, war sonderbar. Sein Vater war ein eingeschworener Fernseh-Gegner. Er hatte das Gerät erst vor vier oder fünf Jahren angeschafft und auch nur auf den hartnäckigen Druck der restlichen Familie, die nicht ganz so begeistert wie er davon war, Abend für Abend ägyptische Musik zu hören und in Bildbänden über das Land der Pharaonen zu blättern - oder Dias von selbigem zu betrachten. Wenn er den Apparat schon jetzt einschaltete, dann mußte es einen triftigen Grund dafür geben!
Er ging weiter und fand seine Eltern tatsächlich im Wohnzimmer - und zusammen mit Petach vor dem Fernseher sitzen. Auf der Mattscheibe flimmerten in rascher Folge Bilder von brennenden Häusern und Autos vorbei, dazwischen immer wieder Aufnahmen von Krankenwagen und Hubschraubern und ganzen Hundertschaften von Polizisten, die versuchten, des herrschenden Chaos Herr zu werden.
»Hallo!« sagte er.
Sein Vater und auch Petach sahen nur flüchtig hoch und konzentrierten sich dann wieder ganz auf das Geschehen auf dem Fernsehschirm, aber seine Mutter stand auf und kam ihm lächelnd entgegen.
»Hallo, Aton«, sagte sie. »Na, ausgeschlafen?«
Die ehrliche Antwort hätte nicht einmal annähernd gelautet, aber Aton nickte trotzdem und warf einen bezeichnenden Blick auf den Hund, der ihm gefolgt war und nun neben ihm stand. Seltsam - es sah aus, als verfolgte auch er aufmerksam das, was sich im TV abspielte. Dabei wußte Aton, daß Hunde das Fernsehen gar nicht wahrnehmen können. Ihre Augen sind nicht dafür gemacht.
Seine Mutter lächelte, als sie seinen Blick registrierte. »Ich sehe, er hat dich geweckt«, sagte sie.
»Wie?« murmelte Aton.
»Anubis«, erklärte seine Mutter. »Ich habe ihn hochgeschickt, damit er dich aufweckt.«
»Ähm ... ja«, gestand Aton verwirrt. »Wenn auch etwas ... feucht.«
»Manchmal ist er richtig albern, ich weiß«, sagte seine Mutter. »Man traut es ihm gar nicht zu, aber er kann herumtollen und spielen wie ein Welpe.«
»Hm«, machte Aton. Er war noch nicht wach genug, um diese Erklärung gebührend würdigen zu können. Außerdem hatte er das Gefühl, daß seine Mutter nur auf ein Stichwort wartete, um mit weiteren Lobeshymnen auf den Dobermann aufzuwarten.
»Komm«, sagte sie. »Dein Frühstück ist fertig. Lassen wir die beiden Männer einen Moment allein.«
Aton warf im Hinausgehen noch einen Blick auf den Fernseher. Die Bilder der Katastrophe hatten sich nicht geändert, aber nun war ein Kommentator im Vordergrund erschienen, der in eine dicke Steppjacke eingemummt war und vor Kälte zitterte, wobei sein Atem kleine, graue Dampfwölkchen auf das Mikrophon blies.
»Was ist passiert?« fragte er, während er seiner Mutter in die Küche folgte. »Ein Flugzeugabsturz?«
»Später«, antwortete seine Mutter ausweichend. »Jetzt wird erst einmal gefrühstückt.«
Wogegen Aton nichts einzuwenden hatte. Neben manchem anderen unterschied sich Aton auch in diesem Punkt von den meisten seiner Altersgenossen - Kriege, Kämpfe und Katastrophen hatten ihn nie sonderlich interessiert. Er hatte nie verstanden, was Menschen so daran faszinierte, andere Menschen leiden zu sehen.
»Also hast du gut geschlafen«, stellte seine Mutter fest, während Aton sich mit wahrem Heißhunger über das Frühstück hermachte, das auf dem Tisch unter dem Fenster bereitstand.
»Fataschisch«, murmelte Aton mit vollem Mund. Dann registrierte er das mißbilligende Stirnrunzeln seiner Mutter, schluckte denn Bissen rasch hinunter und sagte noch einmaclass="underline" »Phantastisch. Es ist doch besser, im eigenen Bett zu schlafen. Selbst wenn man von einem lebenden Scheuerlappen geweckt wird«, fügte er mit einem Seitenblick auf Anubis hinzu.
Seine Mutter lachte, streichelte dem Hund den Kopf und schnitt ein großes Stück Wurst ab, das sie ihm hinhielt. Atons Augen wurden groß, als er sah, wie Anubis das Stück mit seinen riesigen Fangzähnen behutsam aus ihren Fingern nahm, es dann allerdings - ganz auf Hundemanier - mit einem einzigen gierigen Haps hinterwürgte.
»Was ist denn mit dir los?« fragte er staunend.
»Mit mir? Was?«
»Du konntest Hunde doch nie ausstehen.«
»Das stimmt«, antwortete sie. »Aber Anubis ist etwas Besonderes.«
»Ja, das glaube ich allmählich auch«, sagte Aton leise. Er sah den Hund an, und Anubis erwiderte seinen Blick gelassen.
Jetzt war Aton sicher, daß in seinen Augen ein spöttisches Funkeln geschrieben stand. »Er hat mein Herz sozusagen im Sturm erobert«, fuhr seine Mutter fort.
»Das deines Vaters auch. Er ist sehr schlau, weißt du? Und überaus freundlich.«
Die Worte waren eher dazu angetan, Atons Mißtrauen dem Hund gegenüber noch mehr zu schüren, aber er enthielt sich wohlweislich jeden Kommentars. Während seine Mutter sich am Herd zu schaffen machte, blickte Aton, während er aß, aus dem Fenster. Der Anblick hatte sich verändert, seit er das letzte Mal hiergewesen war - seine Mutter, die eine passionierte Hobbygärtnerin war, hatte einige neue Büsche angepflanzt, und am hinteren Ende des Gartens begann das Skelett eines kleinen Gewächshauses zu entstehen. Seine Mutter sprach seit Jahren davon, es zu bauen, und offensichtlich hatte sie die Erfüllung dieses Traumes nun endlich in Angriff genommen.