Plötzlich glaubte Aton eine Bewegung zu sehen. Zwischen den verschneiten Büschen am anderen Ende des Gartens huschte ein Schatten entlang - vielleicht nur ein Vogel oder irgendein anderes kleines Tier, das aus dem nahen Wald herbeigekommen war oder im dichten Buschwerk Schutz vor dem kalten Wind suchte. Aton hätte wohl auch kaum mehr als einen flüchtigen Blick darauf verwandt, hätte Anubis nicht plötzlich die Ohren aufgestellt und leise zu knurren begonnen. Einen Moment darauf war er am Fenster und spähte aufmerksam in den Garten hinaus.
»Was ist denn los?« fragte seine Mutter.
Aton zuckte mit den Schultern und beugte sich vor, konnte aber jetzt nichts mehr entdecken. Der Schatten war verschwunden. Aber er hatte ihn sich nicht eingebildet, das bewies die Reaktion des Hundes ganz deutlich. »Vielleicht irgendein Tier«, sagte er.
Auch seine Mutter trat ans Fenster und sah einen Moment lang aufmerksam hinaus, wandte sich dann aber mit einem Achselzucken wieder ab. »Wahrscheinlich«, sagte sie. »Manchmal kommen Kaninchen hierher oder Wiesel. Sie finden im Wald nicht mehr genug Nahrung, seit der Winter hereingebrochen ist.«
Das klang einleuchtend, und es erklärte auch die Reaktion des Hundes, der noch immer sehr aufmerksam aus dem Fenster blickte. Seltsamerweise wedelte er dabei aber heftig mit dem Schwanz, was eigentlich mehr auf Freude als auf Jagdfieber schließen ließ. Aber Aton verfolgte den Gedanken nicht weiter. Erstens verstand er nicht genug von Hunden, um das wirklich beurteilen zu können, und zweitens war Anubis ohnehin ein sehr sonderbarer Hund. Aton wußte immer noch nicht, ob er ihn nun mochte oder nicht.
Herr Petach und sein Vater kamen in die Küche, bevor Aton sein Frühstück beendet hatte, und seine Mutter trug drei weitere Gedecke auf. Sie aßen in den ersten Minuten schweigend und mit einem Appetit, der Aton verriet, daß dies keineswegs ein zweites Frühstück war. Offenbar war er nicht der einzige, der nach der halb durchwachten Nacht an diesem Morgen später als gewöhnlich aus den Federn gekrochen war. Aton fragte sich nun wieder, was denn im Fernsehen so Wichtiges gelaufen war, daß sein Vater und Herr Petach das Frühstück verschoben hatten, um dem Bericht zu folgen - zumal die beiden während der nächsten fünf Minuten kein Wort sprachen, aber sehr ernste Gesichter machten. Die verstohlenen Blicke, die sie ihm hin und wieder zuwarfen, machten ihm auch klar, daß es irgend etwas mit ihm zu tun haben mußte. Voller Unbehagen erinnerte er sich an sein nächtliches Gespräch mit seiner Mutter. Hatte sie seinem Vater vielleicht verraten, daß er an der Geschichte mit der Mumie nicht unbeteiligt gewesen war?
Es vergingen noch einmal lange Minuten, ohne daß Atons Neugier befriedigt wurde, aber gerade, als er schon glaubte, vor Ungewißheit gleich platzen zu müssen, stellte sein Vater die Tasse hin und sah ihn an.
»Deine Mutter hat dir gestern abend ja schon gesagt, daß wir nach Ägypten reisen müssen«, begann er. Aton nickte, sagte aber nichts.
»Ich war ... gestern vielleicht etwas scharf«, fuhr sein Vater nach einer neuerlichen, unbehaglichen Pause fort. »Es tut mir leid. Ich war einfach überrascht und auch verärgert, wie ich zugeben muß.« Er starrte in seine Tasse und fuhr leiser und ohne Aton oder auch Petach anzusehen fort: »Ich muß mich entschuldigen. Bei dir und vor allem bei Herrn Petach. Wie es aussieht, hat er uns mehr als nur einen Gefallen erwiesen.«
»Wieso?« fragte Aton.
Sein Vater atmete tief ein. »Er hat uns nicht nur einen Weg abgenommen«, sagte sein Vater ernst, »sondern dir wahrscheinlich das Leben gerettet.«
»Wie?!« murmelte Aton verwirrt. Er sah erst seinen Vater, dann den Ägypter an. Petach schwieg. Auf seinem Gesicht zeigte sich nicht der mindeste Ausdruck, aber in Aton machte sich plötzlich ein sonderbares Gefühl der Vorahnung breit.
»Du hast vorhin die Bilder im Fernseher gesehen?« fragte sein Vater.
»Sicher«, antwortete Aton. »Aber was hat das mit mir -«
»Das war Crailsfelden, Aton. Das Sänger-Internat.«
Aton erstarrte. Für eine Sekunde sah er wieder die schrecklichen Bilder vor sich, die über die Mattscheibe geflimmert waren: Bilder von zerstörten Gebäuden, von brennenden Autos, von Verletzten und Toten.
»Es kam in den Nachrichten«, sagte sein Vater leise. »Man weiß noch nichts Genaues. Eine Explosion, möglicherweise, oder ein Feuer, das außer Kontrolle geraten ist. Eine furchtbare Katastrophe. Es hat viele Verletzte gegeben und auch Tote. Und ich fürchte, es sind auch einige Schüler des Internats unter den Opfern. Nicht auszudenken, wenn du noch dagewesen wärst.«
Aton hörte die Worte seines Vaters kaum - aber dafür glaubte er plötzlich um so deutlicher das zu hören, was Petach gestern abend im Wagen zu ihm gesagt hatte: Er wird ärgerlich sein. Aber nicht sehr lange, glaub mir.
Aber er hatte doch unmöglich wissen können, was passieren würde!
»Weiß man ... weiß man schon, wer ums Leben gekommen ist?« fragte er stockend. Seine Stimme versagte fast - aber das Entsetzen, das er spüren sollte, war nicht da. Alles, was er in diesem Moment fühlte, war eine tiefe, betäubende Leere.
Vielleicht war der Schrecken einfach zu groß, um ihn sofort zu spüren.
»Nein«, antwortete sein Vater. »Ich hoffe, daß es keiner von deinen Freunden ist. Natürlich habe ich gleich versucht, im Internat anzurufen, aber die Leitung ist tot.«
Aton starrte Petach an. Der Ägypter erwiderte seinen Blick noch immer vollkommen ausdruckslos, aber dann nickte er so unmerklich, daß weder Atons Vater noch seine Mutter die Bewegung bemerken konnten. Dafür registrierte Aton sie um so deutlicher, und er wußte plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit, was sie bedeutete: Werner war unter den Opfern.
Mit einem Male begannen seine Hände so heftig zu zittern, daß er sie vom Tisch nahm und im Schoß verbarg, und das entging seinen Eltern natürlich keineswegs. Sein Vater lächelte traurig, und seine Mutter legte ihm sanft den Arm um die Schultern und drückte ihn an sich.
»Ich weiß, es ist hart«, sagte sie. »Aber Unfälle geschehen nun einmal, auch wenn das grausam klingen mag. Das Leben ist manchmal sehr, sehr ungerecht.«
Die Worte waren nur gut gemeint, und doch kamen sie Aton in diesem Moment wie böser Spott vor. Aber er sagte nichts dazu - und was hätte er auch sagen sollen? Daß er es besser wußte? Daß die Katastrophe, die das Sänger-Internat und Crailsfelden getroffen hatte, alles andere als ein Unglück gewesen war?
Plötzlich hielt er es in Petachs Nähe nicht mehr aus. Er sprang mit einem solchen Ruck auf, daß sein Stuhl umfiel und Anubis sich mit einem erschrockenen Jaulen in Sicherheit brachte, um nicht erschlagen zu werden, und rannte aus der Küche.
Später hätte er nicht mehr zu sagen vermocht, wie er die nächsten Minuten verbracht hatte, ob es fünf oder fünfzehn gewesen waren und was er in dieser Zeit getan oder gedacht hatte. Es war ein Gefühl, wie er es nie zuvor im Leben kennengelernt hatte, und er hätte auch gerne für den Rest seines Lebens darauf verzichtet, denn es war schlimm: eine Mischung aus Entsetzen, Hilflosigkeit und Furcht, wobei er sich über den Ursprung keines dieser Gefühle wirklich im klaren war. Minutenlang rannte er einfach im Wohnzimmer auf und ab, ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen, bis sich der Aufruhr in seinem Inneren so weit gelegt hatte, daß er wenigstens wieder stillstehen und versuchen konnte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
Im Grunde gab es nur eines, dessen er sich vollkommen sicher war: Er hatte sich nichts eingebildet. Weder das plötzliche Erwachen der Mumie noch den Schatten auf der Treppe oder gar sein furchtbares Erlebnis im Wald. Das alles war wirklich passiert, war ihm passiert, und er spürte auch mit derselben, durch nichts begründeten, aber nichtsdestoweniger unerschütterlichen Gewißheit, daß es noch lange nicht vorbei war. Ganz im Gegenteil. Es fing gerade erst richtig an. Und er wußte nicht einmal, was.