Nach einer Weile spürte er, daß er nicht mehr allein war. Er drehte sich herum, darauf gefaßt, seinen Vater oder seine Mutter zu sehen, aber unter der offenstehenden Tür war Herr Petach erschienen. Er sagte nichts. Er stand einfach da und blickte ihn an, ebenso ausdruckslos wie vorhin in der Küche. Und nun erschien ein schwarzer, vierbeiniger Schatten neben ihm, der gar nicht richtig sichtbar zu sein schien, fast, als wäre Anubis gar kein wirklicher Hund, sondern nur das Trugbild eines Hundes. Doch der Moment verging so schnell, wie er kam, und als Aton das nächste Mal blinzelte, war Anubis wieder ganz er selbst. Aber die Furcht, mit der ihn dieser Anblick erfüllt hatte, blieb. Er wich einen Schritt vor dem Ägypter und dem Dobermann zurück.
»Wer ... wer sind Sie?« flüsterte er.
»Ich werde dir alles erklären«, sagte Petach. »Aber nicht jetzt. Später, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie sich darstellen, weißt du? Mancher, der uns gefährlich erscheint, ist in Wirklichkeit ein Freund. Und mancher, der in der Maske des Freundes daherkommt, mag sich als unser schlimmster Feind herausstellen. Bitte vertrau mir.«
Er streckte die Hand aus und kam auf ihn zu, aber Aton tat noch ein paar Schritte zurück, bis er an den steinernen Kaminsims stieß und dort stehenblieb.
Petach folgte ihm nicht. Sein Lächeln war erloschen und hatte tiefer Trauer Platz gemacht. Müde ließ er die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich verstehen«, sagte er. »Aber du wirst auch mich verstehen, sobald du begriffen hast, worum es wirklich geht.«
»Dann erklären Sie es mir!« verlangte Aton. »Erklären Sie mir, warum das alles passieren mußte! Wie viele Menschen sind tot? Fünf? Zehn? Hundert?«
»Ich habe nichts damit zu tun, Aton«, sagte Petach ernst. »Das mußt du mir glauben.«
Und das tat Aton sogar. Etwas in ihm wußte, daß Petach die Wahrheit sagte. Aber das machte es nicht besser.
»Aber Sie haben es gewußt!« sagte er mit zitternder Stimme. »Sie ... Sie haben gewußt, was passieren würde, nicht wahr? Deshalb haben Sie mich abgeholt.«
»Ja«, gestand Petach. »Ich wußte nicht genau, was - aber ich wußte, daß etwas geschehen würde. Etwas Schreckliches. Du wärst jetzt nicht mehr am Leben, wärst du dortgeblieben.«
»Sie ... Sie hätten sie warnen können«, stammelte Aton. Er wußte, daß er Unsinn redete, und Petach wußte das auch; er machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Was hätte er sagen sollen? Daß er eine Vision gehabt hatte, in der er Crailsfelden brennend und in Trümmern daliegen sah? Aton konnte sich Zombecks Antwort auf eine solche Eröffnung lebhaft vorstellen. Im besten Falle hätte er Petach aus seinem Büro geworfen, wahrscheinlich aber die Polizei oder gleich einen Irrenarzt gerufen, eines aber ganz bestimmt nicht getan: Petach erlaubt, Aton mit sich zu nehmen.
Diese Erkenntnis machte es nur schlimmer. Natürlich wußte er, daß es nicht so war. Der Gedanke war nicht nur lächerlich, er war sogar unlogisch - und trotzdem hatte Aton plötzlich das entsetzliche Gefühl, daß es seine Schuld war. Daß all dieses Schreckliche nur seinetwegen geschehen war, aus keinem anderen Grund.
Aton verbrachte die nächsten Stunden in seinem Zimmer, und auch wenn sie den wahren Grund hierfür nicht einmal ahnen mochten, respektierten seine Eltern sein Entsetzen und seinen Schmerz und ließen ihn allein und ungestört.
Atons Gedanken drehten sich in all dieser Zeit wild im Kreis, und sie kehrten immer wieder zu dieser einen Frage zurück: Was geschah hier? Was geschah mit ihm?
Natürlich fand er keine Antwort darauf, aber am Ende kam er zu einem Entschluß. Er würde seiner Mutter erzählen, was passiert war, alles und ganz ehrlich, eingeschlossen seiner Zweifel, ob er es auch wirklich erlebt hatte. Natürlich war Aton klar, daß sie ihm nicht glauben würde, aber er mußte einfach mit jemandem über die unheimlichen Ereignisse der letzten Tage reden. So verließ er schließlich wieder sein Zimmer und ging ins Erdgeschoß hinunter.
Er betrat das Wohnzimmer und fand seinen Vater zusammen mit Petach vor dem Fernseher sitzen, auf dem zu seiner Erleichterung jedoch keine Bilder des zerstörten Internats zu sehen waren, sondern ein Studio, in dem mehrere Männer aufgeregt miteinander diskutierten.
Sein Vater bemerkte sein Eintreten und drehte sich zu ihm herum. »Hallo, Aton«, sagte er. »Setz dich zu uns.«
»Nein, danke.« Aton schüttelte den Kopf und blickte flüchtig zu Petach hinüber. Der Ägypter lächelte wieder sein stets gleichbleibendes Lächeln, das Aton plötzlich gar nicht mehr so freundlich vorkam, und er sah rasch wieder weg. »Wo ist Mutter?«
»Oben im Schlafzimmer«, antwortete sein Vater. »Sie packt unsere Koffer. Warum?«
»Ich möchte mit ihr reden«, antwortete Aton ausweichend.
Sein Vater sah ihn einen Moment fragend an, gab sich aber dann mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Petach sah immer noch Aton an. Anubis saß neben ihm, und Petach hatte in einer wie zufällig wirkenden Geste die Hand auf seine Schulter gelegt. Auch der Hund starrte Aton an.
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Aton wieder herum und ging aus dem Zimmer und zurück zur Treppe. Aber er hatte noch nicht die halbe Strecke hinter sich gebracht, da kam Anubis aus dem Wohnzimmer geschossen, rannte an ihm vorbei und blieb vor der untersten Stufe der Treppe stehen.
Als Aton an ihm vorbeigehen wollte, vertrat er ihm den Weg.
»He, was soll das?« fragte Aton ärgerlich. Er streckte die Hand aus, um den Hund beiseitezuschieben - und zog sie mit einem erschrockenen Keuchen wieder zurück.
Anubis hatte zu knurren begonnen. Seine Lefzen zogen sich zurück und gewährten Aton einen Blick auf die ehrfurchtgebietenden Fänge, und seine ganze Haltung war plötzlich eindeutig drohend.
Aton machte einen Schritt zurück und starrte den Hund eine Sekunde lang wortlos an. Unendlich vorsichtig, um den Dobermann nicht durch eine rasche Bewegung zum Angriff zu provozieren, machte er dann einen Schritt zur Seite und versuchte, in einem weiten Bogen an ihm vorbei zur Treppe zu gelangen.
Anubis ließ es nicht zu.
Aton versuchte es noch einmal und schließlich ein drittes Mal und diesmal weitaus energischer, aber das Ergebnis war stets das gleiche. Anubis rührte sich nicht, solange er der Treppe fernblieb, aber er machte ihm sehr eindeutig klar, daß er ganz bestimmt nicht zulassen würde, daß Aton - ja, was eigentlich?
Die Treppe hinaufging, um mit seiner Mutter zu reden?
Aber das war doch verrückt, vollkommen verrückt!
Der Hund konnte doch unmöglich ahnen, was Aton gedacht hatte!
Und doch war es so. Anubis' Verhalten ließ gar keine andere Erklärung zu. Der Hund wußte, was Aton vorhatte, und tat alles, um es zu verhindern.
Das bestärkte ihn in seiner Gewißheit, daß dieser Hund alles andere war als ein normaler Hund, so wie auch Herr Petach alles andere war als ein ganz normaler Mann, und daß er mit jemandem darüber reden mußte. Es wäre ihm viel lieber gewesen, sich zuerst seiner Mutter anzuvertrauen, doch wenn ihm keine Wahl blieb - gut, würde er eben mit seinem Vater reden, gleich jetzt.
Mit einer entschlossenen Bewegung drehte er sich herum und ging zum Wohnzimmer zurück. Er hörte, wie Anubis sich hinter ihm von seinem Platz am Fuße der Treppe löste, aber er widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen oder gar loszurennen, womit er den Hund vielleicht endgültig zum Angriff gereizt hätte.
Als er noch einen Schritt von der Tür entfernt war, raste Anubis an ihm vorüber, und Aton war fest davon überzeugt, daß er sich nun vor dem Wohnzimmer aufbauen und ihm dessen Betreten verwehren würde. Doch statt dessen rannte Anubis an der Tür vorbei, schlug plötzlich einen Haken nach links und raste kläffend den Korridor zur Hintertür hinunter.