»Was ist denn da draußen los?« drang die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer. Nur einen Augenblick später erschien er unter der Tür, dicht gefolgt von Petach.
Aton setzte dazu an, seinem Vater zu erzählen, was gerade passiert war, aber Petach kam ihm zuvor. »Was hat denn der Hund?« fragte er. »Weshalb bellt er?«
Atons Vater zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Er scheint etwas zu wittern. Irgend etwas muß im Garten sein.«
Aton mußte plötzlich an den Zwischenfall am Morgen denken, als Anubis ans Küchenfenster gesprungen war und eine ganze Weile konzentriert in den Garten hinausgestarrt hatte. Voller Beunruhigung folgte er seinem Vater und Petach, die in die Richtung eilten, aus der Anubis' Gebell drang.
Der Hund war tatsächlich zur Gartentür gerannt und kläffte jetzt wie von Sinnen. Seine gewaltigen Tatzen scharrten über die Tür, wobei sie tiefe Kratzer in dem Holz hinterließen, und sein Bellen klang beinahe hysterisch. Seltsamerweise wedelte er dabei aber heftig mit dem Schwanz.
»Anubis, hör sofort auf!« sagte Atons Vater scharf. »Bist du verrückt? Du demolierst uns ja die ganze Tür! Aus!«
Auf dieses letzte, in scharfem Befehlston gesprochene Wort reagiert Anubis. Er hörte zwar nicht auf zu bellen, hielt jedoch zumindest darin inne, die Tür zu Sägespänen zu verarbeiten, und wich sogar widerwillig einen Schritt zurück, als Atons Vater an die Tür herantrat und einen Blick durch das kleine Fenster in ihrem oberen Drittel warf.
»Da ist doch gar nichts«, sagte er. »Was ist denn in dich gefahren, Anubis? Hast du einen Hasen gewittert?«
Anubis bellte eine hysterische Antwort - und sprang mit einem Satz abermals zur Tür. Atons Vater wich erschrocken zur Seite, um nicht umgeworfen zu werden, und im nächsten Moment drückten Anubis' Vorderpfoten die Klinke hinunter, und die Tür schwang einen Spaltbreit auf.
»He!« rief Atons Vater überrascht. »Was -?«
Anubis bellte, warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf die Tür und drückte sie damit vollends auf. Kläffend sprang er in den Garten hinaus, und in derselben Sekunde flitzte etwas Kleines, Graues unter seinem Bauch und zwischen seinen Beinen hindurch und in das Haus hinein.
Sowohl Herr Petach als auch Atons Vater bückten sich gleichzeitig nach dem grauen Etwas, das hereingewirbelt kam. Petach verfehlte es, aber Atons Vater hatte weniger Glück. Seine vorschnellende Rechte bekam den Schatten zu fassen - und er fuhr mit einem Schmerzensschrei wieder hoch. Auf seinem Handrücken waren vier blutige Kratzer erschienen. Erschrocken richtete er sich auf, während sich der Schemen in einem unglaublich schnellen und geschickten Slalom zwischen ihre beiden Beine hindurchschlängelte und weiterjagte, und prallte wuchtig mit dem Hinterkopf unter Petachs Kinn, der daraufhin prompt die Balance verlor und reichlich unsanft auf dem Hosenboden landete. Der Schatten jagte weiter, raste um Haaresbreite an Aton vorüber und den Korridor entlang, und noch bevor sich Aton ganz herumgedreht hatte, um ihm nachzurennen, hatte Anubis offensichtlich seinen Fehler bemerkt und kehrtgemacht, um den frechen Eindringling ebenfalls zu verfolgen. Kläffend stürmte er ins Haus zurück, rammte Atons Vater nieder und fegte im Vorüberlaufen auch noch Aton von den Füßen. Das ganze Chaos dauerte ungefähr eine Sekunde.
Als Aton sich benommen wieder aufrichtete, erklang Anubis' Bellen weiter drinnen im Haus, eine Sekunde später begleitet von einem schrillen Fauchen und Kreischen, in das sich kurz darauf das Klirren von Glas und eine Reihe polternder Laute mischten.
»Um Gottes willen!« keuchte Atons Vater. »Anubis! Aus!«
Diesmal gehorchte der Hund nicht. Im Gegenteil - der Höllenlärm nahm noch zu, während sich Aton, sein Vater und Petach wieder hochrappelten und dann so hastig losstürzten, daß sie sich um ein Haar gegenseitig von den Füßen gerissen hätten. Der Lärm drang aus dem Wohnzimmer - und so, wie es sich anhörte, schienen dort die himmlischen Heerscharen zu ihrer Entscheidungsschlacht gegen sämtliche Dämonen der Hölle angetreten zu sein.
Atons Mutter kam die Treppe heruntergelaufen, als sich die drei der Tür näherten. Sie erreichte sie als erste, blieb mit einem Schrei stehen und schlug die Hand vor den Mund.
Das Wohnzimmer hörte sich nicht nur so an, als fände dort die Generalprobe für die Schlacht von Harmagedon statt.
Es sah auch so aus.
Anubis sprang hysterisch kläffend durch den Raum, wobei er anscheinend vergessen hatte, daß er kein Dackel oder Zwergpinscher war, sondern ein Hund von gut fünfzig Kilogramm Körpergewicht - mit dem Ergebnis, daß er alles niederwalzte, was ihm in den Weg geriet. Zwei Stühle waren bereits umgefallen, und gerade in diesem Moment krachte Anubis so wuchtig gegen den kleinen Schachtisch vor dem Kamin, daß dieser ebenfalls umkippte. Das Klirren, das sie gehört hatten, War die Glastür einer Vitrine gewesen, in dem Vater einen Teil seiner Sammlung aufbewahrte, und eine Menge dieser kostbaren Stücke war auf dem Fußboden verteilt. Etliche Bücherregale hatten ihren Inhalt ebenfalls auf den Teppich geleert, und überall lagen Glassplitter.
Und jetzt sah Aton auch den Grund für seine Erregung: Es war eine kleine, graue Katze, die verzweifelt vor dem kläffenden Ungeheuer floh, das sie verfolgte. Sie war eindeutig schneller als Anubis, aber in der Enge des Zimmers blieben ihr nicht sehr viele Fluchtwege, und die meisten Hindernisse, denen sie mühsam ausweichen mußte, rannte Anubis einfach nieder, so daß es nur noch eine Frage von Sekunden zu sein schien, bis sich die schnappenden Fänge des Dobermanns um ihre Kehle schließen mußten.
Gottlob erwachte Atons Vater in diesem Moment aus der Starre, in die er wie alle anderen bei dem chaotischen Anblick gefallen war. »Fangt die Katze!« schrie er. Gleichzeitig stürmte er los, rannte hinter Anubis her und versuchte dessen Halsband zu fassen. Natürlich gelang es ihm nicht, und seine Hände griffen immer wieder ins Leere. Dafür jedoch prallte er nun gegen Bücherregale und Vitrinen und vergrößerte dadurch noch die Zerstörung. Unterstützt wurde er dabei von Petach, der nun ebenfalls losrannte und versuchte, die Katze zu fangen.
Das arme Tier, das vor Angst ganz von Sinnen sein mußte, sah sich plötzlich in die Ecke gedrängt und schlug nun einen Fluchtweg ein, auf dem ihm Hund und Mensch nicht ganz so schnell folgen konnten, nämlich schnurstracks an den kostbaren Samtvorhängen am Fenster hinauf, die der Belastung auch ein paar Sekunden lang standhielten, ehe die Gardinenringe abrissen. Die Katze kreischte vor Entsetzen, warf sich in der Luft herum und benutzte den drei Meter entfernt stehenden Fernseher als Landeplatz, der prompt zu wackeln begann und dann von seinem Fuß kippte, während die Katze sich schon wieder abstieß und wie ein Pfeil schnurgerade durch die Luft und genau auf Aton zugeflogen kam.
Aton war viel zu überrascht, um irgend etwas anderes zu tun, als instinktiv zuzugreifen und die Katze aufzufangen. Er wankte unter dem Anprall des kleinen Körpers, stieß gegen den Türrahmen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Anubis herumwirbelte, im letzten Moment der Gardine auswich, die sich behäbig wie ein zusammensinkender Fallschirm über Petach und Atons Vater senkte und beide unter sich begrub, und mit einem gewaltigen Satz auf ihn zugestürmt kam. Die Katze kreischte. Ihre Krallen gruben sich so tief in Atons Haut, daß er vor Schmerz aufstöhnte und sie am liebsten von sich geschleudert hätte. Anubis überwand das letzte Stück mit einem Sprung, richtete sich knurrend auf die Hinterläufe auf und nagelte Aton mit seinen Vordertatzen an der Wand fest.
Seine Kiefer klafften auseinander. Die Zähne blitzten wie tödliche Dolche, und für eine halbe Sekunde spürte Aton den heißen Atem des Hundes direkt im Gesicht, während sich sein Maul unbarmherzig der Katze auf Atons Armen näherte. Das Kreischen der Katze wurde schriller und brach ab.