Er erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und er war nicht sicher, ob er nicht im Schlaf geschrieen hatte. Aber wenn, so hatte es niemand gehört. Im Haus war es still, bis auf das Toben des Sturms draußen und das gelegentliche Klappern eines Fensterladens oder eines lockeren Dachziegels; Geräusche, die beunruhigend, trotzdem aber normal waren. Das unheimliche Heulen und Wehklagen, das er in seinem Traum zu hören geglaubt hatte, war nichts als die Stimme des Sturms gewesen. Ein Traum, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Ein schlimmer Traum, aber trotzdem nicht mehr. In letzter Zeit schien das zu einer unangenehmen Angewohnheit zu werden.
Aton setzte sich auf und blinzelte einen Moment lang verwirrt zu dem winzigen grünen Licht empor, das über der Tür angegangen war. Erst dann fiel ihm ein, daß es zu einer der zahlreichen technischen Spielereien gehörte, die seine Eltern in den letzten Jahren im Haus hatten installieren lassen. Die Alarmanlage hatte sich automatisch in den Stand-by-Modus geschaltet, als es draußen dunkel geworden war. Wenn man jetzt das Haus verließ oder betrat, hatte man genau dreißig Sekunden Zeit, die Tür wieder zu schließen oder einen verborgenen Schalter zu drücken, ehe die Sirene losplärrte; und dann noch einmal sechzig Sekunden, um zu verhindern, daß auf der nächsten Polizeiwache automatisch Alarm ausgelöst wurde. Und das war nur eine von mehreren Sicherheitsvorkehrungen, die sein Vater getroffen hatte, um unerwünschten Besuchern den Zugang zum Haus zu erschweren. Aton hatte sich über das seiner Meinung nach übertriebene Sicherheitsbedürfnis seines Vaters insgeheim immer amüsiert, aber seit er von dem kürzlich erfolgten Einbruchsversuch erfahren hatte, sah er die Sache ein wenig anders.
Trotzdem betrachtete er das grüne Leuchtauge mit gemischten Gefühlen, während er die Beine vom Bett schwang und sich ausgiebig räkelte. All diese komplizierten Alarmanlagen machten auch den legitimen Bewohnern dieses Hauses das Leben reichlich schwer. Es konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen, in einem Haus zu leben, in dem man kein Fenster offenlassen konnte, ohne daß eine halbe Minute später die Posaunen von Jericho loszubrüllen begannen.
Noch immer ein wenig benommen, stand Aton auf und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ihm ein Zettel auffiel, der auf seinem Nachttischchen lag. Vorhin, dessen war er sich ganz sicher, war er noch nicht dagewesen. Neugierig nahm er ihn auf und las die wenigen Zeilen, die in der sauberen Handschrift seiner Mutter darauf geschrieben waren.
Aton! Vater und ich mußten überraschend in die Stadt, um die Pässe abzuholen. Aber Herr Petach ist ja bei dir. Ich hoffe, wir sind zum Abendessen zurück. Wenn nicht, wärm Dir bitte etwas in der Mikrowelle auf.
Das Wort »Pässe« erinnerte Aton auf unangenehme Weise wieder daran, daß sein Besuch hier nur noch wenige Tage dauern würde - er hatte bisher nicht einmal gefragt, wie lange noch. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die wahre Bedeutung der kurzen Nachricht, die ihm seine Mutter hinterlassen hatte, in sein Bewußtsein drang. Aber dann fuhr er wie elektrisiert zusammen.
Herr Petach ist ja, bei dir ... Und zwar nur Herr Petach!
Atons Herz machte einen erschrockenen Sprung in seiner Brust und begann wieder zu hämmern. Bedeutete das etwa, daß er den ganzen Abend allein mit diesem unheimlichen Mann sein sollte?
Unmöglich! dachte er entschlossen. Keine Minute würde er freiwillig allein mit Petach hierbleiben. Nicht einmal eine Sekunde. Lieber würde er in den Schneesturm hinauslaufen und in der Garage oder im Werkzeugschuppen hinten im Garten warten, bis seine Eltern zurück waren!
Er ließ den Zettel fallen, fuhr herum und stürmte zur Tür, wandte sich aber dann noch einmal um und lief zum Schrank, um seine wärmste Jacke und ein Paar Handschuhe hervorzukramen. Er zog beides über, trat ans Fenster und sah in das tobende weiße Chaos hinaus.
Schon bei dem Anblick wurde ihm kalt. Das Schneetreiben war so dicht, daß er das jenseitige Ende des Gartens schon nicht mehr erkennen konnte, trotz der starken Halogenscheinwerfer, mit denen der Zaun bestückt war. Für einen Moment meldete sich seine Vernunft noch einmal zurück.
Das war kein leichter Schneefall, sondern ein ausgewachsener Schneesturm, und wahrscheinlich war es so kalt, daß er durchaus Gefahr lief, sich Erfrierungen zuzuziehen oder zumindest die schlimmste Erkältung seines Lebens. Aber Vernunft und Furcht sind nur selten Verbündete, und seine Angst vor Petach war einfach stärker. Dabei war er sogar sicher, daß der Ägypter ihm nichts tun wollte - wäre das seine Absicht gewesen, so hätte er auf dem Weg hierher ausreichend Gelegenheit dazu gehabt. Trotzdem - er würde nicht hierbleiben, solange er allein mit Petach im Haus war.
Aton wollte sich vom Fenster abwenden - und blieb wieder stehen.
Im Garten bewegte sich etwas.
Genaugenommen bewegte sich dort eine ganze Menge: Millionen von Schneeflocken und aufgewirbelten Blättern, die der Sturm vor sich her blies, aber dazwischen war noch etwas anderes; ein großer, kantiger Schatten, kaum mehr als ein Schemen, immer wieder vom Sturm verschluckt und scheinbar an anderer Stelle wieder ausgespien, so daß er niemals wirklich erkennen konnte, was es war.
Eine Gestalt?
Das Haus lag weitab von der Stadt und sogar ein gutes Stück abseits der Hauptstraße. Niemand würde sich bei einem solchen Wetter hierher verirren.
Andererseits bestand natürlich die Möglichkeit, daß irgend jemand mit dem Wagen stehengeblieben war oder einfach im Sturm die Orientierung verloren und das Licht gesehen hatte.
Und da waren auch noch die Einbrecher, von denen sein Vater erzählt hatte. Und schließlich gab es noch eine dritte Möglichkeit, aber an die weigerte sich Aton im Moment zu denken.
Seine Schulter begann wieder zu jucken, und er fuhr kurz mit den Fingerspitzen darüber, während er aus eng zusammengekniffenen Augen weiter in den Sturm hinausstarrte und versuchte, mehr als durcheinanderwirbelndes Grau und Weiß zu erkennen. Für einen kleinen Augenblick glaubte er den Schemen noch zu sehen, dann war er verschwunden.
Aton blieb noch ein paar Minuten am Fenster stehen, aber der Schatten zeigte sich nicht mehr. Wahrscheinlich war er gar nicht wirklich dagewesen. Nach den Ereignissen der letzten Tage war es ja auch kein Wunder, wenn seine Nerven anfingen, ihm Streiche zu spielen.
Trotzdem maß er das kleine Licht über der Tür mit plötzlich völlig anderen Augen, als er sich endgültig vom Fenster abwandte. Es war doch ein beruhigendes Gefühl, daß niemand in dieses Haus hereinkam, ohne bemerkt zu werden.
Der Flur war dunkel, bis auf die unvermeidlichen grünen Leuchtpunkte über den Türen, die im grauen Zwielicht des Sturms wie kleine schimmernde Insektenaugen auf ihn herabzustarren schienen. Aber aus dem Erdgeschoß drang ein sonderbares, flackerndes blaues Licht zu ihm herauf, und dazu hörte er Laute, wie er sie noch nie zuvor im Leben vernommen hatte. Im allerersten Moment hielt er sie für eine Art fremdartiger, atonaler Musik, aber das waren sie nicht. Es war ...
Nein, er wußte es nicht. Ein unheimliches Summen und Klingen, eine Art von Musik, aber ohne Melodie oder erkennbare Tonfolge und zugleich ... Er konnte das, was er hörte, nicht wirklich beschreiben, einfach, weil es nichts ähnelte, was er je zuvor vernommen hatte. Sowenig, wie das flackernde blaue Leuchten mit irgend etwas vergleichbar gewesen wäre, was er je gesehen hatte.
Vorsichtig bewegte sich Aton weiter, stieg leise die Treppe hinunter und blieb dicht vor der letzten Stufe stehen. Licht und Geräusche waren deutlicher geworden, und jetzt sah er auch, woher sie kamen: aus dem Wohnzimmer.
Aton schlich auf Zehenspitzen weiter, blieb abermals stehen und lugte mit angehaltenem Atem durch die Tür.