»Nein, Aton, das ist es nicht«, widersprach Petach sanft. Vielleicht war es die Unaufdringlichkeit seiner Art zu reden, die seine Worte so glaubhaft machte. Erneut überlief Aton ein leichtes Frösteln. »Denn was sind Götter und Dämonen anderes als die Essenz dessen, woran wir glauben? Denkst du wirklich, daß Gedanken und Wünsche bloße Illusion sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein ehernes Gesetz des Universums, daß nichts jemals verlorengeht und daß nichts, was geschieht, ohne Wirkung bleibt. Was immer du tust, Aton, bewirkt irgend etwas, und sei es noch so unwichtig, und dies wieder etwas anderes und so weiter. Wenn Millionen und Millionen und aber Millionen Menschen an dieselben Götter glauben, dann nehmen sie eines Tages Gestalt an, zuerst in ihren Gedanken und Wünschen und später vielleicht wirklich.«
»Moment mal«, unterbrach ihn Aton. »Sie ... Sie wollen mir im Ernst erzählen, daß es Mars und Zeus und Wotan und all diese anderen Götter wirklich gibt? Ich meine, als richtige, lebende Wesen?«
»Nicht lebend in dem Sinne wie du und ich«, antwortete Petach. »Aber in einer anderen als der uns bekannten Form ja. So wie alle anderen Götter, an die Menschen jemals geglaubt haben. Sie haben existiert, und sie existieren zum Teil noch heute, denn solange auch nur ein Mensch auf dieser Welt wirklich an sie glaubt, leben sie weiter. Erst, wenn sie vollkommen in Vergessenheit geraten sind, vergehen sie. Auch Erinnerung ist eine Form der Energie, mußt du wissen.«
Aton starrte zuerst ihn, dann den Hund und die kleine, graue Katze in der Tür an, und plötzlich begannen ihm Hände und Knie zu zittern. Damit Petach es nicht bemerken sollte, begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Aber Petach schien keine Notiz davon zu nehmen und sprach weiter.
»Bei den Ägyptern, Aton, waren es Anubis und Re, Aton, Bastet, Isis, Horus und all die anderen, ungezählten Götter und Geistwesen. Und glaube mir - sie alle existierten wirklich, und sie waren sehr mächtig, denn das Reich der Pharaonen war gewaltig, und es existierte über Jahrtausende, in denen der Glaube der Menschen ihnen Kraft und Nahrung war.«
»Und sie leben bis heute«, flüsterte Aton. Er hatte in seinem ruhelosen Hin und Her innegehalten und war am Fenster stehengeblieben. Er konnte die Kälte der Winternacht durch das Glas in seinem Rücken hindurch fühlen, aber sie war nicht der wirkliche Grund, aus dem er plötzlich fror. Er hatte fast panische Angst vor der Antwort, und trotzdem hob er nach einigen Sekunden die Hand, deutete auf die beiden Tiere unter der Tür und fragte: »Dann sind das dort ... Anubis und ... und Bastet?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Petach. »Vielleicht ... in einer ihrer Inkarnationen. Ich dachte, der Angreifer im Wald wäre Anubis, aber nun ... bin ich nicht mehr sicher.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Aton die Worte überhaupt richtig begriff. Aber dann fuhr er mit einem Ruck zu Petach herum. »Dann haben Sie ihn doch gesehen«, sagte er. »Und Sie haben behauptet -«
»Ich mußte sichergehen«, unterbrach ihn Petach. »Und ich wollte auf den richtigen Moment warten. Ich hätte es dir von Anfang an erklären sollen, aber es ist so ... so schwer, selbst für mich. Auch ich weiß noch nicht alles. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen?«
»Und was wollen Sie mir nun erklären?« fragte ihn Aton statt einer Antwort.
Der Ägypter hob die Hand. »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Dein Name, Aton - weißt du, woher er stammt?«
»Natürlich«, antwortete Aton. »So wurde die Sonnenscheibe genannt -«
Wieder unterbrach ihn Petach. »Die Ägypter hatten stets eine Vielzahl von Göttern. Dreihundert sind euch heute noch bekannt, doch damals waren es viel, viel mehr. Über Jahrtausende hinweg, Aton, verehrten sie in ihren Tempeln Hunderte und aber Hunderte verschiedene Götter. Dann aber, eines Tages, erschien ein neuer Pharao auf dem Thron - Amenophis der Vierte. Euch ist er besser unter dem Namen Echnaton bekannt. Echnaton war ein sehr kluger Mann und trotz seiner Jugend bereits sehr weise.«
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Petachs Gesicht, als er den Namen Echnaton erwähnte; eine Mischung aus Trauer, Wehmut und Schmerz, die Aton berührte.
»Er hatte eine Vision«, fuhr Petach nach einer Weile fort. Sein Blick war auf Atons Gesicht gerichtet, aber er schien ihn gar nicht zu sehen. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, und mit einem Male war etwas Neues in ihr. Petach erzählt nicht einfach eine Geschichte, dachte Aton schaudernd. Er spricht wie ein Mann, der das, was er erzählt, wirklich erlebt hat. »Die Menschen sollten nicht mehr aus Furcht viele Götter verehren und ihnen opfern, sie sollten nur einen Gott anbeten, und das aus Verpflichtung und Dankbarkeit. Zudem hatte die Priesterschaft einen Einfluß erreicht, mit dem sie auch politische Entscheidungen durchzusetzen verstand, und plante, einen totalitären Götterstaat einzuführen. So enthob Echnaton die Priester ihres Amtes und verbot die Vielgötterei. Das Reich, das er geerbt hatte, lebte im Wohlstand, und nun sollten alle Menschen auch Anteil haben an dem Licht, von dem alles Leben kam, von der Sonne - Aton. Den finsteren Zeiten der vielen furchteinflößenden Götter sollte die helle, freudige Zeit eines einzigen Gottes folgen.«
Aton fröstelte erneut. Er hatte all dies gewußt, aber aus Petachs Mund hörte sich die Geschichte plötzlich vollkommen anders und neu an. Auf einmal waren es Menschen, über die sie redeten, keine Zahlen in einem Buch, Schicksale, keine bloßen Fakten. Aber ihn überkam auch eine tiefe Trauer, als er an Echnaton dachte und an den gewaltigen Irrtum, dem er erlegen war, und er mußte zugleich an all die Kriege und Greueltaten denken, die im Namen anderer, nur einem einzigen Gott dienenden Religionen geführt und verübt worden waren.
»Die Götter haben es nicht zugelassen«, vermutete er.
»Nicht die Götter«, erwiderte Petach. »Die Menschen haben stets an ihren Göttern gezweifelt, und sie haben niemals selbst eingegriffen, um ihr Überleben zu sichern. Das haben sie nie gewollt - und nie gekonnt. So sind die Gesetze, nach denen das Leben verläuft, Aton.«
»Gesetze?«
»Ein Wort«, sagte Petach wegwerfend. »Nenne es Regeln, wenn es dir lieber ist. Es ist gleich. Doch auch den Göttern sind Grenzen gesetzt, und sie sind manchmal enger als die, denen wir Menschen uns beugen müssen. Nein, es waren nicht die Götter, die Echnaton vernichteten. Es waren die Menschen. Seine eigenen Untertanen. Die Priester, die sich um ihre Macht und ihren Reichtum gebracht fühlten. Sie sammelten die Unzufriedenen um sich und warteten auf einen für sie günstigen Moment. Da Echnaton, der als Pharao das höchste politische und religiöse Amt innehatte, kein politisches Konzept besaß und nicht wahrnahm, daß fremde Volker die Grenzen seines Reiches bedrohten, war dieser Moment bald gekommen.«
»Sie haben ihn umgebracht«, sagte Aton. Petach nickte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Sie stellten ihm eine Falle«, sagte er. »Es war einer seiner engsten Vertrauten, der die Verräter anführte; vielleicht der einzige Freund, den er überhaupt hatte. Auf jeden Fall der einzige Mensch, dem er wirklich vertraute. Echnaton befand sich mit hundertdreißig Mann seiner Leibwache auf dem Weg nach Theben, wo ihn seine Gemahlin Nofretete erwartete. Sein Vertrauter war bei ihm, und in einer Schlucht in einer einsamen Gegend schnappte die Falle zu. Echnatons Männer wehrten sich tapfer. Sie waren die besten der Besten, und sie kämpften wie die Löwen, um das Leben ihres Herrn zu verteidigen. Aber die Übermacht war zu groß, die Falle zu gut vorbereitet. Sie fielen einer nach dem anderen, und schließlich war nur noch Echnaton selbst am Leben. Er floh, aber der Verräter stellte und tötete ihn. Echnaton hat sich nicht einmal gewehrt.«
Seine Stimme versagte. Jeder Ausdruck war daraus verschwunden, und die letzten Sätze waren nur mehr ein Flüstern gewesen, das Aton kaum verstand. Und plötzlich war er ganz sicher, daß das, was Petach erzählte, mehr für ihn war als eine Geschichte, unendlich viel mehr.