Aton taumelte nach hinten und begann hustend nach Luft zu ringen, während Petach die Mumie packte und gegen die Wand warf. Nicht einmal er war den Kräften des lebenden Toten gewachsen, aber er bewegte sich sehr viel schneller als dieser, so daß der Kampf zumindest für den Moment ausgeglichen schien.
Aton fragte sich allerdings, wie lange das wohl so bleiben würde. Petach mochte einige Tricks auf Lager haben, aber er kämpfte gegen einen Feind, der weder Schmerz noch Erschöpfung kannte und den man wahrscheinlich auch nicht töten konnte - tot war er schon seit ein paar tausend Jahren.
»Lauf endlich weg, Aton!« schrie Petach wieder. »In den Kreis!«
Der Anblick des hageren Mannes, der inmitten eines tobenden Schneesturms mit einer dreitausend Jahre alten Mumie kämpfte, reichte endgültig aus, Aton davon zu überzeugen, daß es besser war, auf Petach zu hören. Während Petach mit immer verzweifelter werdenden Sprüngen der Lanze des Angreifers auswich, fuhr Aton auf der Stelle herum und stürzte durch die Wohnzimmertür.
Der Anblick, der sich ihm bot, war beinahe noch gruseliger als alles, was er zuvor gesehen hatte. Schnee und Sturm hatten auch dieses Zimmer erobert und mit ihnen das unheimliche schwefelgelbe Licht. Zwischen den Bücherregalen und Vitrinen tobte ein Mini-Orkan, der alles durcheinanderwirbelte, was nicht niet- und nagelfest war.
Nur genau in der Mitte des Raumes, dort, wo Petach die beiden Feuerschalen aufgestellt hatte, war ein Bereich vollkommener Ruhe geblieben. Auch das gelbe Licht herrschte dort nicht, sondern der klare, milde blaue Schein der beiden brennenden Feuer.
Aber das war noch nicht alles. Das erstaunlichste überhaupt waren die Skarabäen, die Petach auf dem Boden ausgestreut hatte.
Sie waren zum Leben erwacht.
Was vor einer halben Stunde noch aus Stein, Ton, Bronze und Holz gewesen war, das war nun zu einer wild durcheinanderkrabbelnden Masse winziger sechsbeiniger Käfer geworden. Ihre gepanzerten Körper rieben sich mit einem unheimlichen Rascheln und Schaben aneinander, das trotz des noch immer herrschenden Lärmes deutlich zu hören war und Aton eine Gänsehaut über den Rücken jagte; ebenso wie das schreckliche Gefühl, aus unendlich vielen starren Käferaugen zugleich gemustert zu werden.
Trotzdem rannte er weiter auf die winzige Insel aus Stille und sanftem Licht inmitten des tobenden Chaos zu - und blieb kaum einen Schritt davon entfernt stehen.
Er konnte sich nicht mehr bewegen.
Es war, als wäre die Verbindung zwischen seinem Willen und seinem Körper unterbrochen. Alles, was ihm überhaupt noch möglich war, war den Kopf zu drehen und zur Tür zurückzublicken.
Die Mumie hatte Petach offensichtlich überwältigt. Sie machte keinen Versuch, Aton zu verfolgen, sondern stand einfach nur da und starrte ihn an. Und zugleich stieg dieses mit Worten kaum zu beschreibende Gefühl in ihm auf, das er bei seiner Begegnung im Wald gehabt hatte - als griffe eine unsichtbare, eiskalte Hand nach ihm und begänne langsam, das Leben aus ihm herauszupressen. Er bekam keine Luft mehr. Aton spürte, wie sein Herz immer schwerer schlug und sich sein Magen und alle anderen Organe zusammenzogen.
Es tat überhaupt nicht weh, aber es war ein furchtbares Gefühl, und er spürte, daß etwas noch viel Furchtbareres geschehen würde, wenn es ihm nicht gelang, den Bann zu brechen.
Er versuchte es. Er versuchte es mit aller Kraft, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Und plötzlich spürte er, wie er sich - völlig ohne sein eigenes Zutun - herumzudrehen begann und einen ersten Schritt auf die Mumie zu machte.
Noch bevor er den zweiten tun konnte, erschien Petach unter der Tür. Sein Gesicht war blutüberströmt, und seine Kleider waren zerrissen, aber seine Bewegungen waren so schnell und kraftvoll wie zuvor. Blitzartig umschlang er die Mumie von hinten mit den Armen, wirbelte sie herum und stieß sie so heftig gegen ein Regal, daß die meisten Bücher von den Brettern fielen und die Schreckgestalt unter sich begruben.
»Der Kreis!« schrie Petach.
Aton konnte sich wieder bewegen, denn als Petach die Mumie gepackt hatte, war der unsichtbare Bann von ihm abgefallen. Mit einem Satz war er in der Mitte der lebendigen Skarabäen, und im selben Moment, in dem er aus dem Sturm heraus war, sank auch dessen Heulen auf ein erträgliches Maß herab, ebenso wie das Wimmern der Alarmanlage. Dafür wurde das Rascheln und Knistern der krabbelnden Käfer lauter. Die Tiere bewegten sich immer schneller. Aton sah, daß sie jetzt zwei unterschiedlich große Kreise bildeten, die sich an zwei Stellen überschnitten, so daß der Bereich, in dem Aton stand, im Grunde kein Kreis war, sondern eine Art doppelter Halbmond.
An den beiden Schnittstellen hätte eigentlich ein heilloses Chaos entstehen müssen, aber die winzigen sechsbeinigen Geschöpfe wichen sich wie durch Zauberei immer wieder im letzten Moment aus. Die Bewegung der beiden Kreise kam nicht einmal ins Stocken. Nur das Schaben der aneinanderreihenden Chitinpanzer war zu hören.
Ein Gefühl dumpfer Hilflosigkeit überkam Aton. Er war dem Tod um Haaresbreite entronnen, und was tat er? Er stand inmitten eines Kreises aus Käfern und verließ sich darauf, von einem jahrtausendealten Hokuspokus beschützt zu werden. Erst dann fiel ihm der Fehler in diesem Gedanken auf. Schließlich war es ja auch derselbe jahrtausendealte Hokuspokus, der ihn überhaupt erst in Gefahr gebracht hatte.
Er sah zu Petach hinüber.
Die Mumie hatte sich wieder erhoben und wankte auf den Ägypter zu. Sie konnte nicht mehr richtig gehen; einige der morschen Knochen mußten bei dem Sturz zerbrochen sein.
Aber sie war deswegen nicht weniger gefährlich. Das linke Bein hinter sich herschleifend, taumelte sie vorwärts - und stieß so plötzlich mit der Lanze zu, daß Petach dem Angriff nicht mehr ausweichen konnte. Die rostige Spitze durchbohrte seine Brust. Petach taumelte zurück, brach in die Knie und sank zur Seite. Die Mumie drehte sich herum und humpelte auf Aton zu. In ihren leeren Augenhöhlen flackerte die pure Mordlust. Bastets Krallen hatten die Bandagen vor ihrem Gesicht zerfetzt, so daß Aton direkt in ihr erstarrtes Totenkopf-Grinsen sah.
Jetzt hatte die Mumie den Kreis erreicht, hob ihren verletzten Fuß, um darüber hinwegzutreten - und wich wieder zurück. Ihr pergamenttrockenes Gesicht war nicht in der Lage, irgendwelche Gefühle auszudrücken, und trotzdem glaubte Aton das Mißtrauen zu fühlen, das das furchtbare Geschöpf plötzlich erfüllte.
Wie sich in der nächsten Sekunde zeigte, war diese Vorsicht durchaus berechtigt. Die Mumie überwand ihre Bedenken und führte die Bewegung zu Ende. Die Skarabäen ergossen sich wie eine summende, zangenbewehrte lebende Flut über das Bein des Unheimlichen, und plötzlich flogen Staub und winzige Stoffetzen in die Höhe. Ein besonders unternehmungslustiger Pillendreher krabbelte am Bein der Mumie in die Höhe und begann sich in ihre Hüfte hineinzufressen, während die Armee der anderen den Fuß binnen Sekunden bis auf die Knochen abnagte. Die Mumie wich einen Schritt zurück, starrte auf ihren skelettierten Fuß hinab und dann wieder auf die Skarabäen, die ungerührt weiter ihre Kreise zogen.
Aton war kaum weniger verblüfft als die Mumie. Zugleich aber begann er neue Hoffnung zu schöpfen. Verrückt oder nicht, Petachs Zauber schien zu wirken. Er sah die durcheinanderwuselnden Käfer an, und plötzlich erschien ein schadenfrohes Grinsen auf seinem Gesicht.
»Was ist los, Kumpel?« fragte er. »Traust du dich nicht? Komm doch her. Ich glaube, sie warten schon auf dich.«
Atons Schadenfreude hielt noch ungefähr eine Sekunde vor - und dann fiel ihm schlagartig jene alte Volksweisheit ein, nach der Hochmut meistens vor dem Fall kommt. Und sie schien einer gewissen Wahrheit nicht zu entbehren. Die Mumie bewegte sich nämlich erneut, aber diesmal riskierte sie keinen weiteren Fuß, sondern stieß mit ihrer Lanzenspitze nach den Skarabäen. In der ersten Sekunde kam Aton dieses Vorgehen geradezu lächerlich vor - der Unheimliche konnte unmöglich vorhaben, all diese unzähligen Käfer einzeln aufzuspießen.