Die Polizistin ging zu einem der anderen Wagen und kam nach einigen Augenblicken zurück; eine Thermosflasche in der Rechten und einen weißen Plastikbecher in der Linken. Aton schloß dankbar die Hände um den Becher und genoß für einen Moment die Wärme, die seine Finger durchströmte. Erst dann trank er - und hätte sich um ein Haar verbrüht, als die Polizistin so heftig zusammenfuhr, daß er eine unbedachte Bewegung machte.
»Was haben Sie?« fragte er. Zugleich sah er an sich hinab, wohin der Blick der jungen Beamtin gerichtet war. Und dann entdeckte er auch den Grund für ihr Erschrecken. Unter der Decke, in die er sich gehüllt hatte, war ein daumennagelgroßer, sechsbeiniger Käfer hervorgekrabbelt: ein Skarabäus, der sich irgendwie in seine Kleider verirrt hatte und so dem Zauber der Mumie entgangen war. Ganz instinktiv wollte Aton die Hand heben, um ihn wegzufegen, doch dann erinnerte er sich daran, daß er diesem Geschöpf und seinen Brüdern und Schwestern vermutlich das Leben zu verdanken hatte, und führte sein Vorhaben nicht aus. Es war auch nicht nötig: Das Tierchen machte ein paar unsichere Bewegungen vorwärts, kippte dann plötzlich zur Seite und fiel in den Schnee hinunter.
Die Polizeibeamtin hatte sich wieder in der Gewalt und zwang sich zu einem Lächeln. »Du wolltest mir sagen, was da drinnen passiert ist.«
Genau das hatte Aton nicht gewollt. Er hatte es auch weder gesagt, noch in irgendeiner Form angedeutet; aber das gehörte wohl zur Taktik der Beamtin, Antworten auf Fragen zu erhalten, die sie noch gar nicht gestellt hatte. Außerdem war es vielleicht besser, wenn er eine Geschichte parat hatte, bevor ihre Kollegen zurückkamen und Petachs Leichnam mit herausbrachten.
Atons Gedanken überschlugen sich für einen Moment. Er wußte, daß es wenig Sinn hatte, irgendeine Lügengeschichte zu erzählen, bei der er sich doch nur in Widersprüche verwickeln würde - aber er konnte auch unmöglich die Wahrheit sagen. Wenn er das tat, dann standen seine Chancen nicht schlecht, sich in Null Komma nichts in einem gemütlichen Zimmer ohne Fenster wiederzufinden, dessen Wände und Boden mit Gummi gepolstert waren, die Polizeibeamtin deutete sein Schweigen falsch. Sie griff nach seiner Hand und zwang ein aufmunterndes Lächeln auf ihr Gesicht, das die Sorge in ihrem Blick allerdings nicht ganz verbergen konnte. »Laß dir ruhig Zeit«, sagte sie. »Denk in Ruhe nach. Die Alarmanlage in eurem Haus ist losgegangen; wahrscheinlich, als jemand das Fenster oben im ersten Stock eingeschlagen hat. Warst du allein im Haus? Wo sind deine Eltern?«
»Nein«, antwortete Aton. »Meine Eltern sind nicht da, aber Herr Petach war bei mir. Ein ... Freund meines Vaters.«
»War?« hakte die Beamtin nach. Aton verfluchte sich innerlich. Warum mußte diese sympathische junge Frau auch so eine verdammt aufmerksame Zuhörerin sein?
»Er ist da«, korrigierte er sich hastig. »Aber er ist ... ich meine -«
Bevor er sich noch weiter verhaspeln konnte, erschienen die beiden Polizeibeamten, die ins Obergeschoß hinaufgerannt waren, wieder unter der Eingangstür - und Atons Augen quollen vor Unglauben fast aus den Höhlen, als er sah, wen sie bei sich hatten.
Es war niemand anderer als Petach. Und sie trugen nicht etwa seine Leiche oder stützten ihn auch nur. Petach bewegte sich aus eigener Kraft. Er sah ein wenig mitgenommen aus - wie Aton klitschnaß und alles andere als sauber, aber ganz offensichtlich unverletzt.
Aber er hatte doch gesehen, daß die Lanze seine Brust durchbohrt hatte! Die Spitze war zwischen seinen Schulterblättern wieder hervorgedrungen! Kein Mensch konnte eine solche Verletzung erleiden und dann in aller Seelenruhe wieder aufstehen und herumgehen.
Petach konnte es. Er humpelte nicht einmal, sondern bewegte sich nur deshalb ein wenig ungeschickt, weil einer der beiden Polizisten seine Hand gepackt und auf den Rücken gedreht hatte, während der andere mit seiner Pistole auf ihn zielte.
»Ist er das?« fragte die Polizistin. »Dieser Petach?«
Aton nickte, und die Beamtin erhob sich und gab ihren beiden Kollegen einen Wink. »Es ist alles in Ordnung. Der Mann gehört zum Haus.«
Petach wurde losgelassen, stolperte jedoch ein, zwei Schritte in der gleichen, unbeholfenen Weise weiter, ehe er stehenblieb und sich benommen umsah. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war der eines Menschen, der gar nicht richtig begreift, was mit ihm geschieht.
Während Petach und die beiden anderen Beamten näher kamen, wandte sich die Polizistin wieder an Aton und stellte eine weitere Frage, aber er hörte sie gar nicht. Vollkommen fassungslos starrte er Petach an. Dessen Hemd war zerrissen, und auf dem Stoff war dunkles, schon halb eingetrocknetes Blut, aber die Haut darunter war vollkommen unversehrt. Aber er hatte es doch gesehen!
»Ich glaube, ich rufe doch lieber einen Krankenwagen«, sagte die Polizistin, als Aton auch beim dritten Mal nicht auf ihre Worte reagierte. Sie beugte sich in den Wagen und nahm den Hörer des Funkgerätes ab, und Petach sagte ganz ruhig: »Ich glaube, das wird nicht notwendig sein.«
Die Polizistin zögerte. Aus dem Lautsprecher des Funkgerätes drang eine Stimme, die sich nach dem Grund des Anrufes erkundigte, aber die Beamtin starrte den Hörer verständnislos an, zuckte dann mit den Schultern und hängte wieder ein.
»Es ist alles in Ordnung, meine Herren«, fuhr Petach fort, nun an die beiden anderen Beamten gewandt, die ihn noch immer flankierten. »Es war ein Einbrecher im Haus, aber er ist wieder fort. Uns beiden ist nichts passiert.«
Und das gespenstische Geschehen, das Aton eben bei der Polizistin beobachtet hatte, wiederholte sich: Die beiden Beamten sahen sich eine Sekunde lang verwirrt an, dann zuckten sie gleichzeitig mit den Schultern - und gingen zu ihren Wagen. Aton sah, wie einer von ihnen in ein tragbares Funkgerät sprach. Wenige Augenblicke später erschienen weitere Polizisten unter der Haustür, die dabeigewesen waren, das Haus zu durchsuchen.
Petach warf Aton einen fast beschwörenden Blick zu, drehte sich halb herum und wandte sich direkt an die Polizistin. »Es ist in Ordnung. Ich kümmere mich jetzt um Aton. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Aber ich -« Die Polizistin blinzelte. Sekundenlang rang sie sichtbar nach Worten, aber schließlich zuckte sie nur abermals mit den Schultern und griff erneut nach dem Funkgerät, und Aton hörte fassungslos, wie sie in der Zentrale Bescheid gab, daß hier offensichtlich alles wieder in Ordnung sei und sie sich jetzt auf den Rückweg machen würden. Sie griff nach dem Zündschlüssel, zögerte aber dann doch noch einmal und wandte sich mit sichtbarer Überwindung wieder an Petach.
»Wir müssen noch ein Protokoll aufnehmen«, sagte sie. »Das ist Vorschrift.« Ihre Stimme klang flach, wie die eines Menschen, der im Traum oder unter Hypnose spricht, und Aton zweifelte keine Sekunde daran, daß es nur eines einzigen Wortes von Petach bedurft hätte, um sie alle ihre Vorschriften vergessen zu lassen. Aber möglicherweise sah der Ägypter ein, daß er es sich nicht zu leicht machen konnte - spätestens, wenn die Polizistin und ihre Kollegen zurück auf der Wache waren und man einen Bericht von ihnen verlangte, würden sie begreifen, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
»Meinetwegen«, sagte er widerstrebend. »Aber schicken Sie die anderen weg. Es ist nicht nötig, daß eine ganze Ansammlung hier herumsteht, um einen Bericht aufzunehmen.«
Die Polizistin tat, was Petach ihr befohlen hatte, und obwohl sie das jüngste und somit zweifellos nicht das ranghöchste Mitglied der Polizei hier war, gehorchten ihr alle anderen widerspruchslos und sehr schnell. Nach kaum einer Minute fuhren zwei der drei Streifenwagen wieder ab.
Aton wandte sich im Flüsterton an Petach. »Wie haben Sie das gemacht?« fragte er.
Petach lächelte. »Das war leicht. Menschen sind so einfach zu beeinflussen, wenn man weiß, was sie wirklich wollen. Es hat nichts mit Zauberei zu tun. Und ich denke, es ist in deinem Sinn. Oder möchtest du ihnen erklären, was sich wirklich zugetragen hat?«