Oben angekommen, erlebte er die nächste Überraschung. Er hatte zwar mit eigenen Augen gesehen, wie die Mumie Bastet mit solcher Wucht gegen die Wand geschmettert hatte, daß der Aufprall ihr eigentlich jeden einzelnen Knochen im Leib hätte brechen müssen, aber die Katze saß vollkommen unversehrt auf dem Treppenabsatz, und Aton hätte keinen Pfennig darauf gewettet, daß der Ausdruck in ihren Augen kein spöttisches Lächeln war. Er ignorierte das Tier, eilte ins Bad und verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, unter der Dusche zu stehen und das Gefühl zu genießen, wie das heiße Wasser die Kälte aus seinen Gliedern vertrieb.
Aton fühlte sich nicht nur körperlich wohler, als er wieder ins Erdgeschoß zurückkam.
Seine Mutter hatte ihm trockene Kleider gebracht, während er unter der Dusche gestanden hatte, und für eine kurze Weile hatte er ein emsiges Klopfen und Hämmern gehört, dessen Bedeutung ihm klar wurde, als er die Treppe hinunterkam. Sein Vater und Petach hatten die Haustür notdürftig repariert und die vollkommen zertrümmerte Hintertür mit Brettern vernagelt, so daß zwar noch die Kälte, wenigstens aber nicht mehr der Wind Einlaß ins Haus fand. Im Wohnzimmer brannte Licht, und Aton hörte die Stimmen seiner Eltern und Petachs, noch bevor er die Tür erreichte.
Sie hatten noch ein übriges getan: Das Chaos im Wohnzimmer war beseitigt worden, zumindest soweit es im Moment überhaupt möglich war. Die Möbel (die, die noch ganz waren, hieß das) waren wieder an ihren Platz gerückt und die größeren Trümmerstücke und Glasscherben zusammengefegt worden.
Trotzdem bot das Zimmer einen Anblick zum Gotterbarmen. Auf dem Boden stand zentimeterhoch das Wasser. Die meisten Bücher waren aus den Regalen gefegt worden, viele der kostbaren Bände lagen zerrissen und aufgeweicht am Boden und der allergrößte Teil von Vaters Sammlung dazu. Aton verstand zuerst kaum, wieso sein Vater diesen Anblick so gelassen hinnahm. Ein einziger Blick in Petachs Gesicht beantwortete diese Frage. Dann entdeckte er auch die blonde Polizeibeamtin, die noch geblieben war.
»Aton!« begrüßte ihn sein Vater. »Fühlst du dich besser?«
Aton nickte geistesabwesend und setzte seine Musterung des Zimmers fön. Auf dem Parkett, dort, wo der magische Kreis gewesen war, prangte ein gewaltiger Brandfleck, aber von der Mumie war nicht einmal Asche zurückgeblieben. Auch Schild und Lanze waren verschwunden. Aton vermutete, daß Petach diese Dinge beiseite geschafft hatte, um lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen.
»Nun«, begann sein Vater, »jetzt, wo du -« Er brach wieder ab. Seine Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen, während er etwas hinter Aton starrte. Aton wandte den Kopf und erkannte den Grund für die Verstimmung seines Vaters: Es war Bastet. Die Katze hatte hinter ihm das Zimmer betreten, sich gesetzt und in aller Seelenruhe damit begonnen, sich zu putzen.
»Was tut dieses kleine Monster hier im Haus?« fragte er.
»Bastet ist kein Monster!« hörte Aton sich zu seinem eigenen Erstaunen heftig widersprechen. »Sie hat mir das Leben gerettet!«
»Bastet?«
»Ich finde, der Name paßt«, antwortete Aton.
»Und wieso hat sie dir das Leben gerettet?« fragte die Polizistin.
»Das ist vielleicht ein bißchen übertrieben«, mischte sich Petach ein. »Aber immerhin hat sie Alarm gegeben, als der Mann oben das Fenster aufgebrochen hat. Sie gebärdete sich plötzlich wie wild.«
»Was man von deinem tapferen Wachhund nicht behaupten kann«, fügte Aton hinzu.
»Anubis?« Sein Vater sah sich suchend um. »Wo ist er überhaupt?«
»Er ist in den Garten gelaufen, als die Tür zu Bruch ging«, sagte Petach. »Aber er wird schon wiederkommen.« Er deutete auf Bastet. »Lassen Sie das Tier hier. Aton hängt daran.«
Atons Vater gab sich mit einem Seufzen geschlagen. »Na gut. Meinetwegen. Es ist ja sowieso nur noch für ein paar Stunden.« Er wandte sich an die Polizistin. »Ich denke, wir sind dann soweit fertig. Sie schicken Ihren Bericht direkt an meine Versicherung, wie besprochen?«
Die junge Frau klappte ihren Notizblock zu und verstaute ihn in einer Tasche ihrer Uniformjacke. »Ja«, sagte sie. »Ich muß jetzt wirklich los. Im Grunde bin ich schon viel zu lange hier. Meine Vorgesetzten werden sich fragen, wo ich bleibe.« Sie drehte sich zur Tür, blieb aber plötzlich wieder stehen und lächelte Aton an. »Begleitest du mich hinaus?«
»Gerne«, antwortete Aton. Er war ganz froh, aus diesem Zimmer herauszukommen. Der Schrecken war noch zu frisch, und alles hier drinnen erinnerte ihn an das entsetzliche Geschehen.
Sie verließen das Zimmer und einen Augenblick später das Haus. Aton verbarg fröstelnd die Hände in den Hosentaschen, während sie auf den Streifenwagen zugingen. Es war kälter geworden, und das Heulen des Windes und die Schatten, die das Haus belagerten, brachten die Angst von vorhin zurück.
»Das war sicher sehr aufregend, wie?« fragte die Polizistin. »So ein ungebetener Besucher kann einem einen ganz schönen Schrecken einjagen. Aber es ist ja nichts passiert - oder?«
Aton war ein wenig verwirrt. Er spürte, daß die junge Frau ihn nicht grundlos gebeten hatte, sie zu begleiten. Hatte sie vielleicht doch Verdacht geschöpft?
»Dein Name ist Aton, nicht?« fragte sie. Sie hatten den Wagen erreicht, aber sie machte keine Anstalten, einzusteigen. »Ein seltsamer Name. Aber hübsch.«
»Der Name des ägyptischen Sonnengottes unter Echnaton«, antwortete Aton. Er lächelte schüchtern. »Mein Vater liebt alles, was mit den alten Ägyptern zusammenhängt. Dabei habe ich noch Glück, daß er nicht die alte Schreibweise gewählt hat. Aton ist im Grunde ein Übersetzungsfehler. Eigentlich hieß er Aten. Aber mit dem Namen hätte ich wahrscheinlich Selbstmord begangen, ehe ich fünf geworden wäre.«
»Aton gefällt mir«, antwortete die Polizistin lächelnd. »Mein Name ist Sascha.«
»Sascha? Aber das ist ein Jungenname!«
»Das denken die meisten, aber es stimmt nicht.« Sie zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie Aton. »Hier - meine Adresse. Auf der Rückseite steht meine Privatnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen.«
»Aber wieso?« Aton drehte die Visitenkarte verwirrt in der Hand.
»Weil ich das Gefühl habe, daß hier irgend etwas nicht stimmt.« Sie hob rasch die Hand, als Aton widersprechen wollte. »Steck die Karte einfach ein, okay? Und jetzt geh wieder ins Haus, ehe du dich am Ende wirklich noch erkältest.«
Aton wich einige Schritte von dem Streifenwagen zurück, aber er blieb noch stehen, bis Sascha eingestiegen war und den Motor gestartet hatte. Ihre Worte hatten ihn verblüfft - aber zugleich auch froh gestimmt. Sie wußte natürlich nicht, was hier wirklich geschehen war, aber ganz offensichtlich spürte sie, daß irgend etwas hier nicht so war, wie es aussehen sollte. Und das wiederum erfüllte Aton mit einem Gefühl tiefer Erleichterung. Denn es bedeutete, daß Petachs Macht vielleicht doch nicht ganz so groß war, wie er bisher angenommen hatte.
Petachs Geschichte (2)
Aton hatte einen Traum: Der Gang erstreckte sich schnurgerade in die Erde hinein, ein rechteckiger Stollen, etwas höher als breit, dessen Wände und Decke aus gewaltigen Quadern bestanden, jeder einzelne mehr als zwei Meter lang und einen hoch. Es war sehr dunkel; das war es hier immer gewesen. Dies war ein Ort, den das Licht der Sonne niemals gewärmt hatte, solange die Welt bestand, und den es niemals erhellen würde. Aton hatte eine Lampe bei sich, aber die Batterien waren schon schwach, und das Glas war gerissen, vorhin, als er gestürzt war. Unter normalen Umständen wäre ihr Licht kaum noch sichtbar gewesen, aber seine Augen hatten sich an den matten, gelblichen Schein gewöhnt, so daß er seine Umgebung zumindest schemenhaft erkennen konnte.
Allerdings hätte er auch gerne darauf verzichtet, denn was er sah, machte ihm angst. Die Wände waren nicht glatt. Wenn man genau hinsah, erkannte man, daß sie gar nicht wirklich aus Quadern bestanden. Der Stollen war in den natürlich gewachsenen Fels hineingemeißelt worden, und die gleichen Hände, die dieses unvorstellbare Werk vollbracht hatten, hatten dünne, parallele Linien in den Stein getrieben, die die Wände aussehen ließen, als wären sie gemauert. Aber das war es nicht, was ihn in Furcht versetzte.