»Keineswegs«, erwiderte Petach ernst. »Es bedeutet sogar einen erheblichen Umweg für mich. Aber ich nehme ihn in Kauf.«
»Wie edel«, sagte Aton.
»Aton, bitte benimm dich«, sagte seine Mutter streng. »Ich kann ja verstehen, daß du traurig bist, aber das ist kein Grund, sich Herrn Petach gegenüber so aufzuführen.«
»Vielleicht ist ja noch nicht alles zu spät«, sagte sein Vater. Er schien an diesem Morgen ungewöhnlich großmütig gestimmt. Normalerweise hätte er Aton eine solche Bemerkung kaum durchgehen lassen. »Siehst du, Aton - ich weiß selber noch nicht genau, was auf der Baustelle los ist. Sobald wir die Probleme dort einigermaßen im Griff haben, werde ich versuchen, dich nachzuholen. Warum sollst du nicht ein, zwei Wochen Ferien machen. Was hältst du davon?«
Wären die letzten Tage anders verlaufen, dann wäre Aton seinem Vater jetzt vermutlich vor Freude um den Hals gefallen. So aber hörte er die Worte kaum. Seine Gedanken kreisten wie wild um das, was sein Vater zuvor gesagt hatte. Er sollte allein mit Petach zurückbleiben? Als er dies das letzte Mal getan hatte, da hätte es ihn um ein Haar sein Leben gekostet - und da hatte es sich nur um wenige Stunden gehandelt!
»Nie und nimmer!« sagte er in einem so entschlossenen Ton, daß er selbst darüber erstaunt war - und sich das Gesicht seines Vaters nun doch mit dunklen Zorneswolken überzog.
»Aton, du -«
»Ich bleibe ganz bestimmt nicht hier«, unterbrach ihn Aton. Er war fast in Panik. Er sollte allein mit Petach zurückbleiben?! Niemals! »Und schon gar nicht mit ihm!« fügte er hinzu und sprang auf.
»Aton, bleib hier!« sagte sein Vater scharf. »Auf der Stelle kommst du zurück.«
Aber Aton lief zur Tür, obwohl es nicht seine Art war, die Befehle seines Vaters zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Vater ebenfalls aufstand, doch da hob Petach die Hand und machte eine besänftigende Geste, und wie nicht anders zu erwarten war, verschwand der Zorn aus dem Blick seines Vaters wie weggeblasen.
»Warten Sie«, sagte Petach. »Der Junge hat in den letzten Tagen eine Menge mitgemacht. Ich rede mit ihm.«
Das war so ungefähr das letzte, was Aton im Moment wollte. Er war unter der Tür stehengeblieben, hin- und hergerissen zwischen Gehorsam seinem Vater gegenüber und dem immer stärker werdenden Wunsch, einfach davonzurennen und eine möglichst große Strecke zwischen sich und Petach zu bringen, aber nun siegte seine Furcht endgültig. Er fuhr herum, stürmte aus dem Raum und wandte sich nach links, zur Haustür hin.
Hinter ihm erklang ein scharfes Bellen, und eine Sekunde später huschte ein schwarzer Schatten an ihm vorbei und verstellte ihm den Weg. Nicht zum ersten Mal, aber so deutlich wie nie zuvor, wurde Aton klar, daß er im Grund ein Gefangener in seinem eigenen Haus war. Ebenso wie seine Eltern wahrscheinlich. Aber die ahnten das nicht einmal.
Er hörte Schritte hinter sich und wußte, daß es Petach war. Er drehte sich nicht um.
»Sei vernünftig, Aton«, sagte Petach ruhig. »Laß uns miteinander reden. Fünf Minuten, mehr verlange ich nicht. Hör mir fünf Minuten zu, und danach entscheide dich. Ich werde dich nicht zwingen, mit mir zu kommen, darauf gebe ich dir mein Wort.«
Aton starrte ihn schweigend an - und schließlich nickte er, wenn auch schweren Herzens. Welche andere Wahl hatte er schon?
»Gut«, sagte Petach und deutete zur Hintertür. »Gehen wir einen Moment in den Garten? Ich finde, im Freien redet es sich besser.«
Aton holte seine Jacke von der Garderobe und folgte dem Ägypter aus dem Haus. Er glaubte, den wirklichen Grund dafür zu kennen, daß Petach dort mit ihm reden wollte - nämlich, sicher zu sein, daß weder seine Eltern noch die Handwerker zufällig hörten, was sie zu besprechen hatten.
Der Tag war sehr kalt, aber auch sehr klar. Am Himmel zeigte sich nicht die kleinste Wolke, und die Sonne schien so strahlend, daß Aton geblendet die Hand vor die Augen hob. Erst dann begriff er, daß es gar nicht am Licht lag. Die Sonne schien wie an jedem anderen Tag zu dieser Jahreszeit - aber drinnen im Haus schien es dunkler und kühler gewesen zu sein als sonst; als hätte es sich verändert, auf eine kaum in Worte zu fassende, aber dafür um so deutlicher fühlbare - und sehr unangenehme - Art. Er hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, vor zwei Tagen, als er noch in Crailsfelden gewesen war, das jetzt nicht mehr existierte.
War es das, was er fühlte? Hatten die Mächte des Bösen ihre Hand jetzt auch nach diesem Haus ausgestreckt?
Aton versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht ganz. Etwas blieb zurück, eine Kälte, die sich tief in seine Seele hineingegraben hatte und die er vielleicht nie wieder ganz loswerden würde. Schaudernd vergrub er die Hände in den Jackentaschen und blickte starr an Petach vorbei ins Leere. Sie gingen eine ganze Weile im Garten auf und ab, ohne daß einer von ihnen sprach.
»Was wollen Sie mir sagen, Petach?« begann Aton schließlich.
Petach zögerte. »Ich weiß, du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren«, antwortete er. »Aber ich kann dir jetzt nicht alles sagen. Noch nicht.«
Plötzlich fühlte sich Aton furchtbar müde. Er wünschte sich weit weg, zurück ins Internat, zurück in jene Zeit, in der die Welt noch einfach und klar überschaubar gewesen war, in der sie nur aus den Dingen bestanden hatte, die man sehen und anfassen konnte, und in der die größten Gefahren, mit denen er rechnen mußte, eine Tracht Prügel von Werner und dessen Freunden gewesen war.
Aber diese Welt hatte er verlassen, und er ahnte, daß es endgültig gewesen war. In dem Moment, in dem Petach in sein Leben getreten war, hatte er eine unsichtbare Grenze überschritten, und die Welt auf der anderen Seite dieser Grenze war nicht nur neu und unbekannt, sondern auch voller tödlicher Gefahren. Vielleicht war das, was er bisher erlebt hatte, nur der Anfang gewesen.
»Ich habe dir die Geschichte von Echnaton und seinem Mörder erzählt«, fuhr Petach fort. »Mittlerweile wirst du wohl begriffen haben, daß es mehr ist als eine Geschichte.«
»Stellen Sie sich vor, das ist sogar mir aufgefallen«, sagte Aton.
Petach seufzte.
»Ich verstehe deinen Zorn«, sagte er. »Ich hätte es dir gerne auf eine andere Weise klargemacht, glaub mir. Aber die Dinge entwickeln sich nun einmal nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Ich fürchte, ich habe meine Gegner unterschätzt.«
»Ihre Gegner?«
»Die andere Seite in diesem Spiel«, erklärte Petach. »Nenn sie, wie du willst.«
»Spiel?« ächzte Aton. »Sagten Sie Spiel? Mir kam es ziemlich ernst vor.«
»Alles ist ein Spiel, in gewissem Sinne«, erwiderte Petach. »Nur der Einsatz ist verschieden. Was uns Menschen wie tödlicher Ernst erscheinen mag, ist für die Götter nicht mehr als ein Spiel, und über ihnen wiederum stehen andere Mächte, deren Regeln sie gehorchen müssen, und vielleicht setzt sich diese Kette bis ins Endlose fort ...« Er machte eine vage Bewegung mit beiden Händen und kehrte zum Thema zurück: »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich dachte, ich hätte noch mehr Zeit, aber das war ein Irrtum.«
»Zeit? Wozu?«
»Dir alles zu erklären«, antwortete Petach. »Dich in Sicherheit zu bringen. Und deine Eltern auch.«
»Was haben meine Eltern -?« fragte Aton, aber Petach unterbrach ihn: »Hör mir zu, Aton. Hör mir bitte zu, und versuche mir zu glauben, daß ich die Wahrheit sage. Die Prophezeiung, von der ich dir gestern nacht erzählt habe, wird sich erfüllen, so oder so. Manchmal ist das Schicksal einfach stärker als der Wille der Menschen, und manchmal scheint es uns ungerecht, weil wir nicht verstehen, warum etwas geschieht. Was geschehen muß, wird geschehen, und kein Mensch auf dieser Welt kann etwas daran ändern.«
»Wenn das wirklich so ist, wozu reden wir dann noch miteinander?« fragte Aton. »Wenn wir sowieso machtlos sind?«
»Weil es in unserer Hand liegt, wie es geschieht«, antwortete Petach. »Das Schicksal ist unerbittlich, Aton, aber es ist nie wirklich grausam. Es kennt nicht Gut und Böse. Die Dinge werden geschehen, aber es liegt bei uns, auf welche Weise. Ich weiß seit langem, daß sich Echnatons Fluch erfüllen wird, und ich dachte, ich hätte Zeit genug, Gefahr von Unschuldigen abzuwenden. Jetzt weiß ich, ich habe mich getäuscht.«