»Was soll das heißen?« fragte Aton.
Petach begann wieder, mit kleinen, gemessenen Schritten im Garten auf und ab zu gehen, und Aton folgte ihm. Als er flüchtig zum Haus sah, erkannte er die Umrisse seiner Eltern am Küchenfenster. Beide standen da und sahen zu Petach und ihm heraus, und Aton fragte sich, ob sie auch nur ahnten, was zwischen ihnen besprochen wurde.
»Echnatons Fluch wird sich erfüllen«, sagte Petach. »Die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben, und der Verräter wird endlich sterben dürfen. Doch dies kann auf verschiedene Weise geschehen - in einer Nacht des Schreckens und der Tränen, die das Leben vieler Unschuldiger kostet, oder in dem Frieden, den sich der ruhelose Wanderer so lange herbeigesehnt hat.«
Die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben ... Aton fröstelte. Die Worte hätten aus einem Zombie-Film stammen können, doch die Art, auf die Petach sie aussprach, machten sie zu etwas Unheimlichem, Drohendem.
»Und auch dein Schicksal und das deiner Eltern stehen auf dem Spiel«, fuhr Petach nach einer Pause fort, in der er ihm Zeit gegeben hatte, das Gehörte zu verarbeiten. »Ich kann und will dir jetzt nicht erklären, warum das so ist, aber du mußt mir glauben, daß ich versucht habe, dich zu beschützen. Vielleicht hätte ich dich eher abholen sollen, aber nun haben sie dich gefunden, Aton, und das allein zählt im Moment. Und sie werden wiederkommen.«
»Sie meinen, die Mumie gestern abend ... das war nicht ... nicht das einzige Wesen, das hinter mir her ist?« fragte Aton stockend.
»Ich fürchte, nein«, antwortete Petach. »Und jetzt, wo sie wissen, daß es dich gibt und wo du bist, werden sie bald wiederkommen. Nicht nur du bist in Gefahr, Aton, versteh das.«
Aton schwieg eine ganze Weile. Während sie nebeneinander durch das hartgefrorene Gras marschierten, war das Knirschen ihrer Schritte das einzige Geräusch. Aton verstand nur zu gut, was Petach ihm wirklich hatte sagen wollen: Nicht nur er allein war in Gefahr, sondern jeder, der sich in seiner Nähe aufhielt. Nach einer Weile blieb er stehen und sah wieder zum Fenster hinüber. Seine Eltern standen noch immer da.
»Haben Sie deshalb dafür gesorgt, daß sie so plötzlich aufbrechen mußten?« fragte er.
Petach lächelte. »Ich gebe zu, ich habe ein wenig ... nachgeholfen, ja. Ich habe es nicht gerne getan, aber es mußte sein. Meine Kraft reicht vielleicht aus, dich zu beschützen, aber wahrscheinlich nicht, auch deine Eltern vor Schaden zu bewahren.« Er atmete hörbar ein und sah Aton durchdringend und ernst an. »Solange der Tag des Erwachens nicht vorüber ist, Aton, bist du eine Gefahr für sie.«
»Aber warum denn nur?« murmelte Aton. »Ich ... ich habe doch mit alledem gar nichts zu tun! Warum wollen sie ausgerechnet mich?«
»Weil du etwas besitzt, das sie benötigen«, antwortete Petach. »Etwas von sehr großem Wert. Nicht für dich oder mich oder irgendeinen anderen lebenden Menschen - aber für die Götter und die Toten.«
»Ich?« Aton riß ungläubig die Augen auf. »Was soll das sein?«
»Es würde nichts ändern, wenn ich es dir erklären würde«, sagte Petach. »Du würdest es nicht verstehen. Doch es gibt etwas, was ich noch tun kann. Sobald deine Eltern in Sicherheit sind, bringe ich dich an einen Ort, an dem sie dich nicht erreichen können. Wenn mein Vorhaben gelingt, werden sie jedes Interesse an dir verlieren, glaube mir.«
Petach appellierte für Atons Geschmack ein wenig zu oft und zu nachhaltig an sein Vertrauen. Aber welche Wahl hatte er schon? Wieder sah er zu dem Fenster hin, hinter dem seine Eltern standen und zu ihnen herblickten, ehe er sich mit einer letzten Frage an Petach wandte.
»Versprechen Sie mir, daß ihnen nichts passiert, wenn ich tue, was Sie verlangen?« fragte er.
Petach nickte. »Das verspreche ich«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Sie wollen nur dich. Und ich werde dich beschützen. Gestern abend hat er mich überrascht, aber das nächste Mal bin ich vorbereitet.«
»Dann komme ich mit Ihnen«, sagte Aton.
Die Rolltreppe
Am frühen Nachmittag fuhren sie zum Flughafen. Es waren noch mehr als zwei Stunden, bis das Flugzeug ging, das Atons Eltern nach Kairo bringen würde, aber Petach drängte auf einen zeitigen Aufbruch, und wie sich zeigte, taten sie gut daran. Petach hatte nämlich den Vorschlag gemacht, sie in seinem Wagen zum Flugplatz zu fahren, statt ein kleines Vermögen für ein Taxi auszugeben, und Atons Vater war leichtsinnig genug, dieses Angebot anzunehmen - mit dem Ergebnis, daß sie statt einer halben annähernd anderthalb Stunden für eine Strecke von nicht einmal fünfzig Kilometern benötigten.
Sowohl Aton als auch seine Eltern waren während der gesamten Fahrt sehr schweigsam, und die gedrückte Stimmung nahm sogar noch zu, als sie endlich in das große Parkhaus rollten. Petach steuerte den Wagen auf das oberste Parkdeck, obwohl sie an mindestens fünfhundert freien Plätzen vorbeifuhren, und Aton war wahrscheinlich der einzige, der sich zumindest denken konnte, warum er das tat: Aus irgendeinem Grund schien sich Petach unter freiem Himmel sicherer zu fühlen als in geschlossenen Räumen.
Sie stiegen aus, luden ihr Gepäck auf einen kleinen Karren und betraten die riesige Abfertigungshalle. Während Atons Vater und Petach zu den Schaltern eilten, um die Tickets abzuholen und das Gepäck aufzugeben, war für Aton der Moment des Abschieds von seiner Mutter gekommen.
Es war nicht das erste Mal - aber es war ihm niemals so schwergefallen wie jetzt. Und seiner Mutter schien es nicht anders zu ergehen. Sie versuchte ein paar scherzhafte Bemerkungen zu machen, um die Stimmung aufzuheitern, verschlimmerte dadurch aber eher alles. Und schließlich schloß sie Aton einfach in die Arme und drückte ihn lange und so fest an sich, daß er kaum noch Luft bekam. Als sie sich wieder voneinander lösten, schimmerten Tränen in ihren Augen.
»Ich ... ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist«, sagte sie, während sie mit nervösen Bewegungen in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch herumkramte. Sie hatten nicht mehr viel Zeit; der Flug war bereits das erste Mal aufgerufen worden, so daß sie sich gemeinsam zur Zollsperre begaben und der endgültige Abschied dann sehr schnell vonstatten ging - wofür Aton beinahe dankbar war. Er hätte zwar seinen rechten Arm dafür gegeben, seine Eltern begleiten zu können, aber da das ohnehin nicht möglich war, hätte ein langer Abschied alles nur noch schlimmer gemacht. So war Aton froh, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sein Vater versicherte ihm noch einmal, wie leid es ihm tue, das Weihnachtsfest nicht zusammen mit seiner ganzen Familie verbringen zu können, und versprach, ihn nachzuholen, sobald dies möglich sei, dann umarmten sie sich ein letztes Mal, und die automatischen Türen schlossen sich endgültig hinter seinen Eltern.
Petach schlug vor, zum Aussichtsdeck hinaufzugehen, um den Start der Maschine zu beobachten, aber Aton lehnte ab. Er wollte nur noch weg hier. Wenn er noch lange blieb, dann war er nicht mehr sicher, ob er die Tränen tatsächlich noch zurückhalten konnte. »Ich möchte nach Hause«, sagte er. »Ich will ... einfach eine Weile allein sein. Verstehen Sie das?«
»Sehr gut«, sagte Petach. »Aber wir fahren nicht zum Haus deiner Eltern zurück. Dieser Ort ist nicht mehr sicher.«
»Aber -«
»Ich habe dir gesagt, daß ich dich an einen sicheren Ort bringe, sobald deine Eltern abgereist sind«, erinnerte ihn Petach. Er wies mit der Hand nach oben, zum gläsernen Dach der riesigen Halle. »Es wird bald dunkel, und die Nacht ist ihr Reich. Wir müssen uns beeilen, um bis dahin am Ziel zu sein.«