Allmählich begann er müde zu werden. Das Gehen auf den ungleichen Stufen war anstrengend, und die Kälte und die klamme Feuchtigkeit, die hier herrschten, taten ein übriges, um an seinen Kräften zu zehren. So blieb er schließlich stehen und sah sich nach einem trockenen Platz um, auf den er sich setzen konnte, um eine Weile auszuruhen und neue Kraft zu schöpfen. Bevor er seinen Entschluss in die Tat umsetzte, wandte er den Kopf und sah zurück, und was er erblickte, das ließ ihn seine Pläne schlagartig ändern.
Der Schatten war noch da. Und er war deutlich näher gekommen - so nahe, daß er sich nunmehr beim besten Willen nicht mehr einreden konnte, es handle sich tatsächlich nur um einen Schatten. Es war eine Gestalt. Das Licht dort oben war zu schlecht, um Einzelheiten zu erkennen, aber Aton sah trotzdem, daß es sich um einen Mann handelte, einen sehr großen, schlanken Mann, der einen Helm, einen oben bogenförmig zulaufenden Schild in der linken und eine Lanze in der rechten Hand trug, und das, was ihm seine Augen nicht zeigten, das fügte seine Phantasie unaufgefordert hinzu ...
Aton rannte los. Er nahm nun keine Rücksicht mehr darauf, daß die Treppe für die Füße von Riesen gemacht zu sein schien, sondern jagte die Stufen hinunter, so schnell er nur konnte. Er wußte, welche Gefahr er damit einging - ein Sturz auf den felsigen Stufen konnte gefährliche, ja sogar tödliche Folgen haben, aber wenn ihn der Verfolger einholte, dann war es ohnehin um ihn geschehen. So setzte er alles auf eine Karte und raste so schnell in die Tiefe, daß ihm beinahe schwindelte. Dann und wann warf er einen Blick über die Schulter zurück. Wie er beinahe erwartet hatte, gelang es ihm nicht, den Abstand zu seinem unheimlichen Verfolger wieder zu vergrößern - aber zumindest kam er nicht näher.
Aton rannte weiter und weiter. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, aber gerade, als er sich allmählich mit dem Gedanken zu beschäftigen begann, ob sie vielleicht tatsächlich bis in alle Ewigkeit weiter in die Tiefe führen würde, begann sie sich abermals zu verändern: Die Stufen wurden flacher, und die Neigung der ganzen Treppe nahm nach und nach ab.
Das Laufen bereitete ihm jetzt nicht mehr so viel Mühe wie bisher, so daß er es wagte, sein Tempo noch etwas zu steigern. Es gelang ihm allerdings trotzdem nicht, den unheimlichen Verfolger abzuschütteln. Die Stufen unter seinen Füßen wurden immer flacher und verschwanden dann ganz, so daß er nun endgültig nicht mehr über eine Treppe, sondern auf einem zwar noch immer abschüssigen, aber glatten Boden rannte, auf dem er noch einmal rascher werden konnte. Ganz flüchtig kam Aton zu Bewußtsein, daß sein Traum ihn in der Wirklichkeit eingeholt hatte: Er rannte tatsächlich durch einen jahrtausendealten Gang, der in unbekannte Tiefen hinabführte, und wurde von einem Schatten verfolgt, der den Tod oder gar Schlimmeres brachte. Vielleicht war der Traum gar keine Erinnerung an etwas gewesen, sondern eine Vorahnung, und er hatte die Warnung, die er ihm gab, ein Leben lang gehört, ohne sie zu verstehen.
Der Gang endete so plötzlich, daß Aton noch ein paar Schritte weiterstolperte, ehe ihm überhaupt bewußt wurde, daß er den Treppenschacht endgültig verlassen hatte.
Aber er war auch nicht im Freien - obwohl der Raum, der ihn umgab, so riesig war, daß man dies im allerersten Moment durchaus hätte annehmen können. Was den Eindruck ein wenig störte, das waren die mächtigen gemauerten Wände, die an vier Seiten in die Höhe strebten und sich weit über Atons Kopf in spitzem Winkel vereinten. Aton befand sich in einer riesigen unterirdischen Höhle, die die Form einer Pyramide hatte. Ihre Größe wagte er nicht einmal zu schätzen - aber sie reichte vollkommen, daß man eine richtige Pyramide hätte nehmen und hineinstellen können. Der Boden bestand nicht aus den ansonsten üblichen Felsquadern, sondern aus einer einzigen, gewaltigen Platte, die so sorgsam poliert worden war, daß sich das Licht darin spiegelte. Wie im Gang hinter ihm säumten auch hier brennende Reisigfackeln die Wände. Und was an diesen Wänden aufgestellt war, das stellte das Phantastischste dar, das Aton jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Da war eine Sphinx, die auf einem Steinquader ruhte, daneben die Figur eines Falken, der mit halb gespreizten Flügeln zum Absprang ansetzte. Da gab es einen lebensgroßen, von zwei prachtvollen schwarzen Rössern gezogenen Streitwagen, bewaffnete Krieger, Edelleute und reich geschmückte Frauen, Statuen von Bauern und Tieren, Alabasterkrüge und Schmuckpaletten, Gegenstände für heilige Zeremonien, reich verzierte Waffen, alles mit unglaublicher Kunstfertigkeit geschaffen und zum Teil mit Gold und Edelsteinen ausgestattet. Ein unermeßlicher Schatz, der jeden Ägyptologen in helle Begeisterung versetzt hätte.
Es fiel Aton schwer, sich von diesem unglaublichen Anblick zu lösen - aber diese Gegenstände waren nicht das einzige Wunder, mit dem die Pyramidenhöhle aufzuwarten hatte. Ein zweites - und vielleicht noch größeres - befand sich unmittelbar hinter Aton, im Zentrum der Höhle.
Der Streifen aus poliertem Fels, auf dem er herausgekommen war, war nicht sehr breit, zehn, fünfzehn Schritte allenfalls.
Den weitaus größten Teil der Höhle nahm ein ganz offenbar künstlich angelegter See ein. Er war von rechteckiger Form, wie die Höhle selbst, und sein Wasserspiegel lag gute drei oder vier Meter unter dem Bodenniveau. In seiner Mitte erhob sich eine Insel, aber obwohl sie nicht sehr weit entfernt war, konnte Aton sie nicht genau erkennen, denn über dem Wasser lag eine Art grauer Dunst, in dem selbst vertraute Dinge fremd und unheimlich auszusehen begannen. Er konnte nur erkennen, daß sich auf der Insel etwas befand, nicht, was.
Aton trat staunend bis dicht an den See heran und sah zum Wasser hinunter. Es war klar wie Glas, aber trotzdem konnte er den Grund des Sees nicht erkennen; er mußte sehr tief sein. Dunkle Linien am Fels über dem See zeigten, daß der Wasserspiegel ganz allmählich gesunken war, vielleicht über Jahrtausende hinweg. Diese Höhle mußte unglaublich alt sein!
Es war ein Reflex auf der Wasseroberfläche unter ihm, der ihn rettete. Aton registrierte die Bewegung und reagierte ganz instinktiv. Mit einer blitzschnellen Drehung warf er sich vor und zugleich zur Seite, schien für eine furchtbare Sekunde fast schwerelos über dem Nichts zu schweben und prallte buchstäblich Millimeter vor dem Abgrund auf. Hastig rollte er herum, sprang auf die Füße und stolperte rasch zwei, drei Schritte vom Rand des Sees fort, ehe er sich zum ersten Mal zu der Gestalt herumdrehte, die so jäh hinter ihm aufgetaucht war.
Es war nicht die Mumie. Statt eines zum Leben erwachten Toten sah sich Aton einem großgewachsenen, sehr schlanken Mann gegenüber. Sein Gesicht war von edlem Schnitt und trug einen gebieterischen Ausdruck. Gekleidet war er in ein knöchellanges blau und gold gestreiftes Gewand. Auf seiner Brust schimmerte ein goldenes Gehänge in Form eines Falken mit ausgebreiteten Flügeln. Seinen Kopf zierte einer helmartige Krone, auf der vorne eine sich aufbäumende Kobra zu sehen war. In der rechten Hand trug er eine Lanze mit einer dreieckigen Spitze, die linke hatte er nach Aton ausgestreckt. Aton wich rasch ein paar Schritte vor der unheimlichen Gestalt zurück.
Der Mann folgte ihm, aber er bewegte sich nicht sehr schnell.
Soweit Aton sehen konnte, gab es nur diesen einen Ausgang aus dem Raum, durch den er und sein Verfolger hereingekommen waren. Und er war sicher, daß die Treppe nur in eine Richtung führte.
Aton wich rückwärts gehend vor dem Fremden zurück, wobei er sich immer wieder nach einem Fluchtweg umsah. Es gab keinen. Die von den Figuren und Statuen flankierten Wände waren vollkommen glatt. Und auf der anderen Seite lag nur der See mit seinem unheimlichen, nebelverhangenen Zentrum.