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Unerbittlich kam die Gestalt näher. Aton wich im selben Tempo vor dem Unheimlichen zurück, in dem dieser ihm folgte; nicht sehr schnell, aber mit der Beharrlichkeit eines Roboters.

Schließlich blieb Aton stehen, wenn auch in sicherer Entfernung und jederzeit bereit, sofort weiterzulaufen. Der Fremde machte noch einen letzten, schwerfälligen Schritt und blieb dann ebenfalls stehen. Er streckte die Hand aus, aber nicht, um nach Aton zu greifen, wie dieser im ersten Moment angenommen hatte.

»Gib es mir!« sagte er.

Es dauerte nur kurz, bis der Junge begriff, daß der Mann keineswegs in seiner, Atons, Sprache mit ihm geredet hatte, sondern in einer völlig unverständlichen, fremdartigen, die er noch nie zuvor im Leben gehört hatte. Und trotzdem hatte er ihn verstanden.

Aber nur die Worte. Nicht das, was sie bedeuteten.

»Gib es mir!« verlangte der Fremde noch einmal, und nun klang seine Stimme herrisch und ungeduldig, die Stimme eines Mannes, der es nicht gewohnt war, einen Befehl zweimal zu erteilen oder gar auf Widerspruch zu stoßen. Und Aton hätte sich ihm auch gar nicht widersetzt - hätte er nur gewußt, was er überhaupt von ihm wollte.

»Ich ... ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte er. Trotz seiner Angst bemühte er sich, sehr langsam und klar verständlich zu sprechen, denn der andere hatte wieder in jener sonderbaren Sprache geredet, die ihm so vollkommen fremd war und die er trotzdem verstand, auch wenn er sich beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte, wie das vor sich gehen konnte. Und entweder funktionierte der Trick tatsächlich nur in eine Richtung, oder der andere war wirklich ein sehr ungeduldiger Mensch - er reagierte nicht auf Atons Worte, er wiederholte seine Aufforderung auch kein drittes Mal, sondern stieß statt dessen einen zornigen Laut aus und trat mit einem plötzlichen, überraschend schnellen Schritt auf ihn zu. Seine Hand schoß vor und versuchte Aton zu packen.

Aton duckte sich im letzten Moment darunter hinweg, machte einen halben Schritt zurück und drehte sich dann blitzartig zur Seite. Der Fremde sprang vor und hätte Aton unweigerlich zu fassen bekommen, wäre dieser tatsächlich weiter rückwärts gegangen, doch er hatte sich bereits wieder herumgedreht und rannte mit weit ausgreifenden Schritten vor ihm davon.

Ein Blick über die Schulter zurück zeigte ihm, daß der Fremde ihn verfolgte. Und er zeigte ihm noch mehr. Was er schon oben auf der Treppe beobachtet hatte, wiederholte sich auch jetzt, nur war es diesmal, da er den Mann wirklich sehen und nicht nur als Schatten erahnen konnte, hundertmal unheimlicher: Der Mann lief nicht etwa. Er ging mit großen, gemessenen Schritten hinter ihm her, so daß Atons Vorsprung rasch hätte anwachsen müssen. Der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger blieb aber gleich, als hätte der andere die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt und legte mit jedem ruhigen Schritt die gleiche Entfernung zurück wie Aton mit seinem verzweifelten Rennen.

Er ersparte es sich, über diese neuerliche Unmöglichkeit nachzudenken, sondern versuchte, sein Tempo zu steigern.

Es gelang ihm. Nur nutzte es nichts. Als er sich das nächste Mal umsah, war der Fremde noch immer hinter ihm, und er war noch immer nicht viel mehr als vier, fünf Schritte entfernt. Und Atons Kräfte begannen bereits nachzulassen. Er wurde langsamer - mit dem Ergebnis, daß der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger nun zusammenschmolz.

Hastig schritt er wieder schneller aus, so daß der andere zumindest nicht näher kam.

Die Konsequenz dieses unheimlichen Zaubers (ein anderes Wort für das, was er hier erlebte, fiel ihm beim besten Willen nicht ein) wurde ihm erst nach einigen Augenblicken bewußt. Je schneller er rannte, desto schneller schien sich auch sein Verfolger zu bewegen. Aber er wurde nicht im gleichen Maße langsamer wie er. Und das bedeutete nichts anderes, als daß der andere ihn irgendwann einholen mußte, und je mehr er seine Kräfte verschwendete, desto eher.

Der Verzweiflung nahe, wandte er seine Aufmerksamkeit von seinem Verfolger ab und seiner Umgebung wieder zu. Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war längst nicht mehr in Sicht.

Wenn er die Größe der Höhle richtig eingeschätzt hatte, dann mußten sie den ummauerten See mittlerweile gut zur Hälfte umrundet haben, aber er konnte noch immer keinen anderen Ausgang entdecken. Auf der rechten Seite erhob sich nur eine schier endlose Reihe Statuen, die Menschen, Tiere und tierköpfige Gottheiten zeigte. Und auf der linken lag nur der See mit seinem unheimlichen Nebel, in dem sich noch immer irgend etwas bewegte, was Aton noch immer nicht klar erkennen konnte.

Und schließlich kam es, wie es kommen mußte: Aton strauchelte vor Erschöpfung, kämpfte ein paar Augenblicke um sein Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf den harten Steinboden. Er verletzte sich nicht dabei, und als er wieder in die Höhe sprang, da hatte sein Verfolger ihn eingeholt.

Er stand kaum einen Schritt vor ihm, und die Spitze seiner Lanze berührte Atons Brust. Selbst durch den doppelten Stoff von Jacke und Hemd hindurch konnte er fühlen, wie unglaublich kalt das Metall war.

»Gib es mir!« verlangte der Fremde wieder. Diesmal war es ein Befehl, der keinen Widerspruch zuließ. Seine Hand war fordernd ausgestreckt, und Aton wußte, daß die Lanze zustoßen würde, wenn er sich weigerte.

Es gab nur noch eine Richtung, in die er zurückweichen konnte. Ohne auch nur noch eine Sekunde darüber nachzudenken, ließ er sich nach hinten fallen.

Der Sturz in das drei Meter tiefergelegene Wasser schien endlos zu dauern. Und der Aufprall war so hart, als wäre er durch eine Glasscheibe gestürzt. Aton schrie vor Schmerz und Schrecken auf und sah entsetzt zu, wie seine kostbare Atemluft wie ein Vorhang aus winzigen silbernen Perlen vor seinem Gesicht in die Höhe stieg, während er tief in das glasklare, eiskalte Wasser hinabsank. Erst als er schon zwei oder vielleicht auch drei Meter unter der Wasseroberfläche war, begann er ungeschickte Schwimmbewegungen zu machen, um sich wieder in die Höhe zu arbeiten.

Er schaffte es, aber buchstäblich im allerletzten Moment. Das Wasser war so kalt, daß er direkt spüren konnte, wie jede Wärme und damit jede Kraft aus seinem Körper wich, und seine Kleider hatten sich binnen Sekunden vollgesaugt und drohten ihn in die Tiefe zu zerren. Die Atemnot wurde zur Qual, und Atons Herz klopfte, als wollte es jeden Moment zerspringen, als er endlich wieder durch die Wasseroberfläche stieß und keuchend nach Atem rang.

Im ersten Moment drehte sich alles um ihn. Er war nie ein sehr guter Schwimmer gewesen, und in dem eiskalten Wasser und seiner schweren Winterjacke gelang es ihm kaum, sich an der Oberfläche zu halten. Mit ungeschickten Bewegungen paddelte er auf das Ufer zu, griff nach dem rauhen Stein und glitt drei- oder viermal hilflos daran ab, ehe es ihm endlich gelang, sich irgendwo anzuklammern. Der Fremde stand über ihm. Er starrte aus brennenden Augen auf Aton herab und hatte die Lanze halb erhoben, wie um sie nach ihm zu schleudern, zögerte aber aus irgendeinem Grund noch.

Wahrscheinlich ist es auch nicht nötig, daß er seine Waffe benutzt, dachte Aton niedergeschlagen. Ihm war längst klargeworden, daß er sich mit dieser verzweifelten Flucht keinen Dienst erwiesen hatte. Er war zwar dem Fremden und seiner Lanze entkommen, doch nur, um sich in einer anderen, womöglich noch tödlicheren Falle zu fangen. In dem eisigen Wasser würde er nur wenige Minuten durchhalten, und die Wände, die annähernd drei Meter weit in die Höhe strebten, waren so glatt, daß selbst ein geschickterer Kletterer, als Aton es war, keinen Halt daran gefunden hätte. Verzweifelt sah er sich um, suchte nach einer Lücke, einem Riß, irgendeiner Unebenheit im Fels, an der er hätte hinaufklettern können.

Aber da war nichts. Die gemauerten Wände des Sees zogen sich an beiden Seiten glatt und senkrecht dahin, so weit er sehen konnte. Und hinter ihm ... selbst wenn er hätte erkennen können, was in der Mitte des Sees lag - die Strecke war einfach zu weit, um sie in diesem eiskalten Wasser zu durchschwimmen. Er würde ertrinken, ehe er auch nur die Hälfte geschafft hatte.