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»Nein«, sagte er entschieden. »Ich gehe nicht.«

Er drehte sich zu dem Kapuzenmann um, um zu sehen, wie dieser auf seine Weigerung reagierte. Die Gestalt rührte sich nicht.

»Hast du mich verstanden?« fragte Aton herausfordernd. »Ich denke nicht daran, dorthin zu gehen. Ich rühre mich hier nicht von der Stelle, hörst du?«

Der Unheimliche stand einfach da und starrte ihn an, und es verging noch eine geraume Weile, bis Aton begriff, daß er das auch weiter tun würde - er würde einfach stehenbleiben, und Aton konnte hier warten, bis er Wurzeln schlug, ohne daß sich das Boot von der Stelle rührte. Aton wandte sich abermals um und sah auf die Insel hinauf. Der Nebel war nicht dünner geworden, aber er glaubte jetzt, trotzdem einen gewaltigen, finsteren Schatten in ihrem Zentrum zu erkennen.

Langsam hob er wieder einen Fuß, setzte ihn auf den vor Nässe glänzenden Stein und trat schließlich ganz vom Boot herunter.

Im selben Moment verschwand das Boot.

Es fuhr nicht etwa in den Nebel zurück oder löste sich auf, es war einfach nicht mehr da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Aton starrte auf das Wasser hinunter, wo es gelegen hatte, dann drehte er sich endgültig herum und begann, in den Nebel hineinzumarschieren.

Langsam näherte er sich dem Schatten im Zentrum der Insel.

Er konnte jetzt zumindest erkennen, daß es sich wohl um eine Art Gebäude handelte, genauer gesagt um ein mächtiges steinernes Dach, das von einer großen Anzahl fast mannsdicker Säulen getragen wurde. Ein halbes Dutzend flacher Stufen führte ins Innere dieses steinernen Baldachins hinein, und Aton hatte sie kaum betreten, da verschwand der Nebel wie weggezaubert.

Der Anblick war so phantastisch, daß Aton einfach stehenblieb und sich aus großen Augen umsah. Was er am Ufer des künstlichen Sees gesehen hatte, war schon schier unglaublich gewesen, doch dies hier war hundertmal großartiger.

Die Säulen, die das Dach trugen, waren nicht aus Stein, sondern aus schwarzem Ebenholz gefertigt. In regelmäßigen Abständen waren schmale, goldene Bänder in das schwarze Holz eingelassen, und neben jeder einzelnen Säule stand die lebensgroße Statue eines ägyptischen Kriegers. Gesichter und Augen waren so täuschend echt, daß Aton im ersten Moment tatsächlich glaubte, lebendigen Menschen gegenüberzustehen. Überall, einem nicht erkennbaren, aber vorhandenen Muster folgend, waren weitere Tier- und Menschenstatuen verteilt, und unter dem Dach schwebte ein überlebensgroßer Falke, der aus purem Gold bestand.

All diese Wunder jedoch verblaßten gegen den Anblick, der sich Aton in der Mitte des Tempels bot. Eingefaßt von einer kniehohen Mauer aus blütenweißem Marmor erhob sich dort ein sicherlich dreißig Schritte im Quadrat messendes Wasserbecken. Das Wasser war so klar, daß Aton es im ersten Augenblick kaum sah. Eine Anzahl kleiner, aus Gold und anderer. Edelmetallen gefertigter Fische war an haarfeinen Drähten darin aufgehängt, und die vier Eckpunkte des Beckens wurden von übermannsgroßen, geflügelten Wesen bewacht.

In der Mitte dieses Sees befand sich eine Barke. In Konstruktion und Form ähnelte sie dem Schilfboot, mit dem Aton die Insel erreicht hatte, aber sie war viel größer und bestand aus demselben mitternachtsschwarzen Holz wie die Säulen, die das Dach trugen. Wie diese war sie über und über mit goldenen Einlegearbeiten verziert, und als Aton näher herantrat, sah er, daß sie auf einem Sockel aus weißem Marmor ruhte, nicht im Wasser. Ein gutes Dutzend Männer stand an beiden Seiten des Rumpfes, wie Atons Fährmann mit langen Stangen ausgestattet, mit denen sie das Boot von der Stelle staken konnten. Auch diese Statuen waren so lebensecht, daß Aton sich kaum noch gewundert hätte, hätten sie ihre Stangen im nächsten Moment tatsächlich bewegt, um ihre Arbeit zu erfüllen. Wie die Krieger neben den Säulen bestanden sie aus sorgsam poliertem und bemaltem Holz, und wie bei diesen waren ihre Kleider echt, nicht etwa aufgemalt oder geschnitzt.

Im hinteren Teil der Barke gab es einen hohen, ganz in Gold und Blau gehaltenen Baldachin, um dessen Stützpfeiler sich kunstvoll geschnitzte Schlangen wanden, deren aufgerissene Mäuler sich drohend jedem Eindringling entgegenreckten.

Was darunter lag, konnte Aton im ersten Moment nicht richtig erkennen, so daß er kurz den Gedanken erwog, ins Wasser zu steigen und zu der Barke hinüberzuwaten. Aber irgend etwas warnte ihn davor. So ging er am Rand des Wasserbeckens entlang, bis er einen besseren Blick auf das hintere Drittel des Bootes hatte.

Aton riß ungläubig die Augen auf, als er sah, was sich unter dem Baldachin befand.

Es waren zwei Sarkophage.

Jeder mußte weit über zwei Meter messen, und wenn sie tatsächlich aus Gold waren, wie ihre Farbe glauben ließ, so mußten sie Tonnen wiegen. Wie bei den Särgen der ägyptischen Könige üblich, war ihre Form dem, der darin zur letzten Ruhe gebettet worden war, nachempfunden, bis hin zu den Gesichtern, deren Züge mit großer Kunstfertigkeit in das Gold hineinziseliert worden waren.

Es waren die Särge eines Mannes und einer Frau. Beide kamen Aton merkwürdigerweise bekannt vor, sie wirkten sehr edel, sehr stolz und zugleich irgendwie traurig. Ihre Hände waren auf der Brust gefaltet. Die des Mannes hielten den Krummstab und den Fliegenwedel eines Pharaos, in denen der Frau lag etwas, was er nicht erkennen konnte.

Aton stand lange Zeit am Rande des Wasserbeckens und sah auf das Boot und seine Fracht hinab. Eine sonderbare Art der Beklemmung hatte sich in ihm breitgemacht, als er begriff, daß er sich nirgendwo sonst als in einem Grab befand. Es war Jahrtausende alt, und wahrscheinlich existierte es gar nicht wirklich, denn logisch betrachtet konnte er all dies nicht wirklich erleben, und trotzdem hatte er das Gefühl, an einem heiligen Ort zu sein und an einem verbotenen Ort dazu, an dem die Lebenden nichts zu suchen hatten.

Und ganz plötzlich wußte er, daß er diesen Ort kannte.

Er war niemals hiergewesen, denn daran hätte er sich erinnert, ganz gleich, wieviel Zeit inzwischen vergangen und was alles geschehen war, aber dieser Ort war ihm trotzdem nicht fremd, sondern auf eine schon fast unheimliche Weise vertraut.

Warum war er hier?

Es war kein Zufall. Aton war nicht hier, weil ihn sein unheimlicher Verfolger hierhergejagt hatte. Er war aus einem bestimmten Grund hier, und er spürte ganz deutlich, daß er eigentlich wissen müßte, warum. Das Wissen war ganz deutlich in seinem Kopf, aber es war wie ein glitschiger Fisch im Wasser: Immer wenn er danach greifen wollte, schlüpfte es zwischen seinen Fingern hindurch. Er war hier, um ... etwas zu sehen? ... etwas zu tun? ... etwas zu begreifen?

Aber was?

»Helft mir!« flüsterte er. »Ich will euch ja helfen, aber ihr müßt mir sagen, wie! Was kann ich für euch tun? Was ist es, das ihr haben wollt?«

Es war wie vorhin draußen im Nebel auf dem See: Seine Stimme versickerte in der Stille, kein Echo kam zurück, nur dieses unheimliche, fast stoffliche Schweigen. Er wußte jetzt, daß er gut daran getan hatte, nicht zum Boot hinüberzugehen. Die Ruhe dieser beiden Toten dort in ihren goldenen Särgen war heilig, und niemand - auch er nicht - hatte das Recht, sie zu stören. Schon sein Hiersein war nicht richtig, der Klang seiner Stimme ein Frevel, der nicht ungestraft bleiben würde. Langsam drehte sich Aton herum - und prallte so abrupt zurück, daß er um ein Haar doch das Gleichgewicht verloren hätte und in das Wasserbecken zu stürzen drohte.

Hinter ihm stand der Fremde.

Irgendwie hatte er es geschafft, den See zu überqueren und noch dazu trockenen Fußes, obwohl Aton sicher war, daß sein unheimlicher Fährmann ihm nicht zur Verfügung gestanden hatte. Aber er war da, und er schien entschlossener denn je, sich von Aton dieses geheimnisvolle »Etwas« zu holen, denn in seiner rechten Hand blitzte die Klinge eines Dolches.