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Aton war offensichtlich der letzte, denn die Tür schloß sich hinter ihm, kaum daß er im Wagen war, und der Fahrer startete den Motor. Der Bus war nahezu voll - immerhin hatte Zombeck gleich vier Klassen dazu verurteilt, ihn bei einem seiner heißgeliebten Museumsbesuche in die Hauptstadt zu begleiten - und zu seinem Entsetzen entdeckte Aton auch Werner und seine Freunde auf einer der hinteren Bänke.

Zombeck deutete auf einen freien Platz weiter vorne, unmittelbar in seiner Nähe. Aton setzte sich hastig.

Die Fahrt dauerte eine gute Dreiviertelstunde, und da er fast neben dem Direktor saß, verlief sie für Aton ziemlich langweilig. Er nahm es gelassen - vermutlich war es ohnehin nur der Auftakt zu einem jener Tage, die man getrost aus dem Kalender streichen konnte.

Von den mehr als hundert Schülerinnen und Schülern im Bus war Aton vielleicht der einzige, der sich nicht auf den Besuch der Sonderausstellung freute. Und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Als er Werner vorhin erzählt hatte, daß sein Vater eine Vorliebe für das alte Ägypten und alles, was damit zusammenhing, hatte, da war das wohl die Untertreibung des Jahres gewesen. Seine Eltern waren beide geradezu vernarrt in das Land der Paraonen. Sein Vater verbrachte das halbe Jahr - mindestens - beruflich in Ägypten, und solange sich Aton erinnern konnte, hatten die Eltern auch jeden Urlaub dort verlebt. Das Haus, in dem Aton aufgewachsen war, glich einem ägyptischen Museum. Er war mit Geschichten von Amun und Re, von Isis und Osiris, von Anubis und Bastet groß geworden. Sobald er lesen konnte, hatten ihm seine Eltern Bücher mit Farbfotos von Pyramiden, Wandmalereien und Statuen in die Hand gedrückt. Um es deutlich auszudrücken - dieser ganze Ägypten-Kram kam Aton zu den Ohren heraus, und das seit Jahren! Es war wahrhaftig kein Wunder, daß er sich nicht besonders darauf freute, eine Ausstellung über das alte Ägypten zu besuchen.

Atons linke Schulter begann zu jucken. Er hob die Hand und fuhr gedankenverloren mit den Fingern darüber. Er konnte die Ursache dieses Juckens sogar durch den Stoff der Jacke hindurch fühlen. Es war eine winzige, harte Erhebung unter seiner Haut, die er hatte, solange er denken konnte, und die sich immer dann meldete, wenn er nervös oder aufgeregt war. Seine Eltern hatten ihm erzählt, daß es sich um einen Steinsplitter handelte, der in seinen Körper gedrungen war, als er bei einem Explosionsunglück verletzt wurde. Er war damals fünf Jahre alt gewesen, und da der Fremdkörper keine Gefahr darstellte, hatte man nie daran gedacht, ihn zu entfernen.

Atons Mutmaßungen, was den weiteren Verlauf des Tages anging, schienen sich zu bewahrheiten. Die Ausstellung an sich war gar nicht einmal schlecht. Die Veranstalter hatten sich Mühe gegeben. Der große, normalerweise kalt und unpersönlich wirkende Marmorsaal war durch geschickt aufgestellte Lampen und große Wandschirme in eine Anzahl kleinerer, heller Inseln unterteilt, in deren Mitte jeweils ein ganz besonderes Ausstellungsstück stand. Es gab große, meistenteils sogar farbige Bilder an den Wänden und etwas kleinere Abbildungen an den aufgestellten Raumteilern, und in den Glasvitrinen waren alle möglichen Fundstücke zu sehen, daneben hatte man kleine Schildchen angebracht, auf denen das jeweilige Ausstellungsstück beschrieben wurde. Atons kundiges Auge entdeckte natürlich sofort den einen oder anderen kleinen Irrtum, der den Veranstaltern unterlaufen war und der den Besuchern kaum auffallen würde.

So schlenderte Aton mit lässig in den Jackentaschen vergrabenen Händen zwischen den Vitrinen und gläsernen Schränken umher, warf einen Blick auf dieses und jenes, studierte die Schildchen - und blieb plötzlich vor zwei nebeneinanderstehenden, verschieden großen Vitrinen stehen. Die eine Vitrine, eigentlich ein Würfel aus sorgsam poliertem Plexiglas, stand auf einem hohen Sockel aus schwarzem, Granit vortäuschenden Kunststoff, in der etwas ausgestellt war, was auf den ersten Blick wie ein Haufen schmuddeliger, halbverrotteter Lumpen aussah. Das kleine Schildchen daneben verriet, daß es sich um eine Katzenmumie aus der achtzehnten Dynastie handelte, gefunden auf dem berühmten Katzenfriedhof von Bubastis.

Aton runzelte die Stirn und wandte sich der zweiten, viel größeren Vitrine zu.

KRIEGERMUMIE,

behauptete das Schildchen daneben,

GEFUNDEN BEI GRABUNGEN IN SAKKARA

»Was für ein Unsinn«, murmelte Aton, und im selben Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Der Typ sieht aus wie Ricky nach meiner letzten Unterhaltung mit ihm.«

Aton mußte sich nicht herumdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm stand.

Er tat es trotzdem - und begegnete dem Blick aus Werners Augen, deren tückisches Glitzern in krassem Gegensatz zu seinem aufgesetzten Grinsen stand.

Aton versuchte vorsichtig, den Rückzug anzutreten. Er kam genau einen Schritt weit, dann machte Werner eine Handbewegung, und sofort vertrat ihm einer seiner beiden Begleiter den Weg.

»Wieso ist das Unsinn, was auf dem Schild steht?« wollte Werner wissen. Seine Augen wurden schmal, und sein Lächeln erlosch. Aton wich etwas zur Seite und hielt hilfesuchend nach Zombeck oder einem der anderen beiden Lehrer, die mitgekommen waren, Ausschau. Keine Chance. Der Rest der Gruppe befand sich fast am anderen Ende des Saales. Er hätte schon lauthals um Hilfe schreien müssen, um überhaupt gehört zu werden.

»Weil Krieger nicht mumifiziert wurden«, antwortete er zögernd.

»Mumiwas?« fragte Werner auf eine Art und mit einem Gesichtsausdruck, als denke er angestrengt darüber nach, ob sich hinter diesem Wort vielleicht eine Beleidigung versteckte oder irgendein anderer Anlaß, endlich den Streit vom Zaun zu brechen, auf den er schon lange aus war.

»Sie haben keine Mumien aus ihnen gemacht«, erklärte Aton hastig.

»Ich dachte, sie hätten alle ihre Toten so beerdigt«, murmelte Werners rechtes Anhängsel. Werner schenkte ihm einen strafenden Blick, und Aton schluckte die spöttische Antwort, die ihm auf den Lippen lag, im letzten Moment hinunter.

»Das wäre viel zu aufwendig gewesen«, erklärte er.

»Was? Die Toten in ein paar Lappen zu wickeln?«

Aton bemühte sich, möglichst geduldig zu klingen, ohne daß Werner es als überheblich auslegen konnte. »So einfach war das nicht«, sagte er. »Einen Toten zu mumifizieren ist eine ungeheuer komplizierte Sache, und die alten Ägypter waren wahre Meister darin. Den Toten wurden die inneren Organe entfernt -«

»Gibt's auch äußere?« fragte Werner.

Aton überging den Einwurf. »- bis hin zum Gehirn.«

»Echt?« Werner musterte die angebliche Kriegermumie mit neuem Interesse. »Sie haben den Schädel aufgeschnitten und das Hirn rausgeholt? Geil!«

Irgendwann in seiner frühesten Jugend mußte jemand dasselbe mit Werner gemacht haben, dachte Aton. »Nein«, sagte er laut. »Dazu haben sie einen Draht benutzt und das Gehirn durch die Nasenlöcher herausgezogen.«

»Brrrr«, machte Werners linkes Anhängsel und schüttelte sich. Werner selbst schien die Vorstellung eher zu gefallen - und Aton beging den Fehler, sein Grinsen als die Andeutung von Interesse zu deuten, und fuhr mit seiner Erklärung fort: »Die herausgenommenen Organe haben sie dann zusammen mit den Körpern beerdigt, in eigens dafür vorgesehenen Krügen, den Kanopen, weißt du?«

»Und was ist mit dem Typen da?« wollte Werner wissen. »Besonders furchteinflößend sieht er ja nicht aus. Die Burschen waren nicht sehr groß, wie?«

Damit hatte er recht - der Krieger überragte Aton nur um eine Handbreit, aber das lag nur daran, daß er innerhalb seiner Vitrine auf einem Sockel stand, ohne den er vermutlich kleiner als Aton gewesen wäre.

»Die Menschen waren damals alle nicht viel größer«, erklärte Aton. »Außerdem hat die Größe nicht viel zu besagen. Die ägyptischen Heere galten lange Zeit als unbesiegbar.«

»Ja - deswegen sitzen ihre Nachfahren ja heute auch in der Wüste und züchten Kamele«, sagte Werner abfällig.