Выбрать главу

Aton entging dem Hieb nur durch pures Glück. Die Klinge zerfetzte seine Jacke an der Schulter, berührte die Haut darunter aber wie durch ein Wunder nicht, und zu einem zweiten Hieb ließ Aton es nicht kommen. Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der ihn beseelte, vielleicht auch nur Zufall, der ihn das einzig Richtige tun ließ: Er packte den Angreifer mit beiden Händen, wirbelte ihn auf der Stelle herum und versetzte ihm dann einen Stoß, der ihn rücklings in das Wasserbecken stürzen ließ. Noch während dieser mit einem gewaltigen Platschen in dem glasklaren Wasser versank, raste Aton los.

Das Ankh

Mit einigen Sätzen durchquerte Aton den Tempel, erreichte die Treppe, über die er hereingekommen war, und stürmte sie hinab. Der Nebel verschluckte ihn wie eine graue, feuchte Wand, und schon nach wenigen Augenblicken war er so gut wie blind.

Die einzige Hoffnung, die Aton hatte, war, daß das Boot wieder auf ihn wartete, um ihn zurück zum Ufer zu bringen.

Eine verzweifelte kleine Chance - aber die einzige, die er hatte, und so rannte er immer tiefer in den Nebel hinein. Ein paarmal sah er über die Schulter zurück und glaubte einen Schatten hinter sich zu erkennen.

Er war bereits eine geraume Weile gelaufen, als er begriff, daß hier etwas nicht stimmte. Selbst bei sehr großzügiger Schätzung konnte diese Insel bestenfalls einen Durchmesser von hundert Schritt haben - und er hatte mittlerweile bestimmt die dreifache Entfernung zurückgelegt.

Aber unmöglich oder nicht, Aton rannte trotzdem weiter.

Auch wenn er seinen Verfolger nicht sehen konnte, spürte er seine Nähe deutlich. Wahrscheinlich war es wie vorhin: Solange er sein Tempo beibehielt, blieb der Abstand zwischen ihnen gleich, doch sobald er langsamer würde, würde der andere aufholen. Und der Dolch in seiner Hand legte die Vermutung nahe, daß seine Geduld erschöpft war.

Wie auf ein Stichwort tauchte in diesem Moment ein Schatten im Nebel hinter ihm auf. Aton registrierte erschrocken, daß er langsamer geworden war, setzte zu einem kurzen Zwischenspurt an - und prallte wuchtig gegen eine Gestalt, die jäh in den grauen. Schwaden vor ihm erschien.

Der Zusammenstoß war heftig genug, sie beide zu Boden zu schleudern. Aton hörte einen halb überraschten, halb zornigen Schrei, schlug schwer auf die Seite und schlitterte noch ein gutes Stück weiter, ehe eine Wand seine unfreiwillige Rutschpartie beendete.

Vor seinen Augen tanzten bunte Sterne, und für einen Moment spürte er, daß er das Bewußtsein zu verlieren drohte.

Nur das Wissen, daß er aus dieser Ohnmacht wahrscheinlich nie wieder aufwachen würde, gab ihm die Kraft, sie zurückzudrängen.

Aton sprang mit einem Schrei in die Höhe und fuhr herum, aber es war zu spät. Der Verfolger hatte ihn eingeholt. Harte, kräftige Hände packten seine Oberarme und hielten ihn fest.

Aton bäumte sich auf und schrie aus Leibeskräften.

Dann öffnete er die Augen und hörte auf zu schreien.

Der Nebel war verschwunden. Statt auf der Insel der Toten fand sich Aton in einem hellerleuchteten, vom Boden bis zur Decke gefliesten Gang, und die Gestalt, die ihn gepackt hatte, trug kein blaugolden gestreiftes Gewand, sondern das Grün einer Polizeiuniform.

Außerdem war es kein Mann, sondern eine junge Frau mit einem blonden Pferdeschwanz, die Aton genauso verblüfft anstarrte wie er sie.

»Du?!« sagte sie - das hieß, eigentlich sagten sie es beide, aber im selben Atemzug, so daß es sich wie ein einziges Wort anhörte. Dann ließ Sascha seine Arme los, und Aton überwand seine Überraschung und drehte sich hastig herum.

Der Gang hinter ihm war leer. Kaum fünf Meter entfernt verschwanden die Stufen der Rolltreppe im Boden, und außer ihm und der Polizistin war niemand hier. Trotzdem zitterten seine Hände so heftig, daß er sie nicht stillhalten konnte, und er spürte, daß er kreidebleich war.

Sascha sah ihn aufmerksam an, als er sich wieder zu ihr herumdrehte. Sie gab sich jetzt gar keine Mühe mehr, ihr Mißtrauen zu verhehlen. Ihre rechte Hand lag auf der Pistolentasche an ihrer Seite.

»Was ist los mit dir?« fragte sie. »Verfolgt dich jemand?«

Aton war beinahe versucht, »ja« zu sagen, was schließlich auch die Wahrheit gewesen wäre. Aber dann hätte sie ihn gefragt, wer ihn verfolgte und warum, und die Antwort auf diese Frage wäre Aton ziemlich schwergefallen. Also schüttelte er hastig den Kopf und versuchte, sich in ein verlegenes Lächeln zu retten. Es blieb bei dem Versuch.

»Nein«, sagte er. »Ich war nur ... ich meine, es war ... also ich bin ... äh ...«

»Aha«, sagte die Polizistin spöttisch. Im nächsten Moment wurde sie wieder ernst. »Was tust du hier?«

»Meine Eltern«, stotterte Aton. »Sie sind abgeflogen. Ich ... ich meine, Herr Petach und ich haben sie zum Flugzeug gebracht, und -«

»Die Maschine nach Kairo ist vor zwei Stunden gestartet«, unterbrach Sascha ihn.

»Vor zwei Stunden?« Aton riß ungläubig die Augen auf.

»Zweieinhalb, um genau zu sein. Was tust du jetzt noch hier? Und wieso«, fügte sie mit gerunzelter Stirn hinzu, »bist du schon wieder völlig durchnäßt? Ist das so eine Art Hobby von dir, ständig in nassen Sachen herumzulaufen?«

Aton zerbrach sich vergeblich den Kopf nach einer wenigstens halbwegs überzeugend klingenden Ausrede. Er war tatsächlich von oben bis unten naß - wenn das, was er erlebt zu haben glaubte, wirklich nur eine Halluzination gewesen war, dann eine verdammt realistische.

»Also?« fragte Sascha. »Ist dir eine plausible Geschichte eingefallen? Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Ich meine, im Notfall würde ich sogar mit der Wahrheit vorliebnehmen.«

Der Klang ihrer Stimme stand in krassem Gegensatz zu dem, was die junge Frau sagte. Sie hörte sich kein bißchen amüsiert an, sondern im Gegenteil ziemlich verärgert.

Gottlob mußte Aton nicht antworten, denn in diesem Moment erscholl hinter ihm ein lautstarkes Bellen, und als er sich herumdrehte, erblickte er Anubis, der auf ihn zugerannt kam, dicht gefolgt von Petach, der Mühe hatte, ihn an der Leine zu halten. Aton wunderte sich, woher der Hund kam. Sie hatten ihn nicht mitgenommen.

»Aton!« sagte Petach. »Wo um alles in der Welt bist du gewesen? Ich suche dich schon seit Stunden, und -« Er stockte, blieb unmittelbar neben Aton stehen und maß die Polizistin mit einem abweisenden Blick.

»Kennen wir uns nicht?« fragte er schließlich.

»Wir sind uns gestern begegnet«, antwortete Sascha, »und was passiert ist, müssen Sie den Jungen fragen.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte Petach. Er wandte sich an Aton. »Was ist los? Wo bist du gewesen? Ich hatte dich gebeten, nicht allein herumzulaufen.«

Sein scharfer Tonfall ärgerte Aton, aber er beherrschte sich - nicht zuletzt, weil sie nicht allein waren und er Petach in Gegenwart der Polizeibeamtin schwerlich erzählen konnte, was ihm widerfahren war. Er war auch gar nicht sicher, ob er das überhaupt tun wollte.

Petach schien sein Schweigen richtig zu deuten, denn für eine Sekunde erschien ein Ausdruck jähen Erschreckens auf seinem Gesicht. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Gut«, sagte er. »Wir reden später darüber, in Ordnung?«

Nichts war Aton lieber als das, aber die Polizistin gab sich damit nicht zufrieden. »Ich fürchte, das ist nicht in Ordnung«, sagte sie. »Es würde mich brennend interessieren, was hier vor sich geht.«

Petach seufzte. »Ihr Diensteifer ehrt Sie, aber hier handelt es sich um eine reine Privatangelegenheit, bei der uns die Polizei nicht helfen kann«, sagte er. »Vielen Dank für Ihre Mühe. Aber Aton und ich kommen jetzt allein zurecht.« Er sah die junge Frau an und lächelte, und Aton konnte spüren, wie dasselbe geschah, was er schon ein paarmal miterlebt hatte.

Doch diesmal versagten Petachs Zauberkräfte. Sascha wirkte für einen Moment unsicher; aber dann fing sie sich wieder und hielt Petachs Blick gelassen stand.