Aton betrachtete die dunkel daliegende Krankenhausruine noch einige Augenblicke nachdenklich, dann drehte er sich herum und begann, sich durch das dornige Gestrüpp einen Weg zur Straße zurückzubahnen.
Das Wagenrennen
Aton erreichte die Straße unbehelligt - wenn auch reichlich zerkratzt. Er war erschöpft, und er fror erbärmlich. Noch vor einer Stunde hätte er es für unmöglich gehalten, doch jetzt sehnte er sich nach dem groben Kaftan zurück, den Sufi ihm gegeben hatte. Die Nacht erinnerte ihn mit eisiger Kälte und Feuchtigkeit daran, daß in ein paar Tagen Weihnachten war.
Um sich erblickte er nichts als Dunkelheit und Leere: Das aufgegebene Krankenhausgelände erstreckte sich zu beiden Seiten, so weit er sehen konnte, und auf der anderen Straßenseite erhob sich ein kaum weniger verwilderter, von einem zwei Meter hohen Eisenzaun umgebener Park. Aton erwog für einen Moment, darüberzuklettern und sich irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Bäumen zu verbergen, bis es Tag wurde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dunkelheit war kein ausreichender Schutz vor den Mächten, die es auf ihn abgesehen hatten, sondern wohl eher ihre Verbündete. Und darüber hinaus war es so kalt, daß er Gefahr laufen würde, bis zum Morgen zu erfrieren. Er mußte hier weg, und er mußte in Bewegung bleiben - und beides möglichst schnell.
Also warf er einen letzten Blick zurück, stellte mit Erleichterung fest, daß von seinen Verfolgern nichts zu sehen war, und marschierte los.
Wie sich nach einer Weile herausstellte, in die falsche Richtung. Die Straße blieb so dunkel und verlassen, wie sie war, kein Licht war in der Ferne zu sehen, geschweige denn irgendein Anzeichen von Leben.
Schließlich erreichte er eine Abzweigung und blieb stehen. Als er sich umsah, stöhnte er vor Enttäuschung laut auf. Die Straße vor ihm und auch die nach rechts führende Abzweigung erstreckten sich weiter in die Dunkelheit hinein, so weit er sehen konnte. Zur Linken gewahrte er einen schwachen Schimmer, es waren wohl die weit entfernten Lichter der Stadt. Er hatte sich schon gedacht, daß dieses verlassene Krankenhaus irgendwo am Stadtrand liegen mußte - aber Tatsache war wohl, daß es außerhalb der Stadt lag; wahrscheinlich sogar mehrere Kilometer!
Doch alles Hadern mit dem Schicksal half nicht. Aton wechselte die Straßenseite und verfiel in einen leichten, kräftesparenden Trab, von dem er hoffte, daß er ihn lange genug durchhalten konnte, um die Stadt zu erreichen, ehe er erfror.
Beiderseits der Straße erhob sich eine finstere Mauer aus Bäumen und Büschen. Er sah nirgends ein Straßenschild, keinen Wegweiser, keine Abzweigung, und sei es nur ein schmaler Waldweg, nicht einmal eine Reklametafel. Außerdem zeigte sich bald, daß er seine Kräfte wohl überschätzt hatte. Seine Schritte wurden langsamer, und in seinen Gliedern begann sich allmählich wieder eine bleierne Müdigkeit breitzumachen, die sich auch durch die Kälte und die Bewegung nicht vertreiben ließ.
Immer wieder sah er sich im Laufen um, aber in der Dunkelheit hinter ihm rührte sich nichts. Die völlige Stille, durch die er marschierte, verstärkte seine Angst. Er war bestimmt schon eine halbe Stunde auf dieser Straße unterwegs, und bis jetzt war nicht ein einziger Wagen aufgetaucht. Und das unheimlichste: Die Lichter vor ihm waren nicht sichtbar näher gekommen. Aton wußte zwar, wie sehr man sich in einer Entfernung verschätzen konnte, zumal bei Nacht und in seinem erschöpften Zustand, aber es schien, als wäre er bisher überhaupt nicht von der Stelle gekommen! Sein Mut sank. Er würde es nicht schaffen, das spürte er ganz genau.
Gerade als er ernsthaft in Erwägung zog, sich an den Straßenrand zu setzen, um darauf zu warten, daß ein Wagen vorbeikam, sah er einen Lichtschein vor sich. Er beschleunigte noch einmal seine Schritte, und einen Augenblick später erkannte er, was es war: Nur mehr wenige hundert Meter entfernt befand sich eine Bushaltestelle. Und unmittelbar daneben und von einer kleinen Lampe erhellt, deren Licht er gesehen hatte, eine Telefonzelle!
Der Anblick gab Aton neue Kraft. Er drängte die Müdigkeit zurück und begann wieder zu laufen, bis er die Telefonzelle erreichte. Vor lauter Aufregung hatte er einige Mühe, die Tür aufzubekommen, und er stolperte buchstäblich mit letzter Kraft hinein. Drinnen hatte es nur wenige Grade mehr als draußen, aber für Aton war es herrlich warm. Erschöpft und erleichtert ließ er sich gegen das kalte Glas sinken, schloß für einige Sekunden die Augen und genoß einfach das Gefühl, wieder in der Wirklichkeit zu sein. So einfach dieses Gebilde war, es war ein Teil seiner Welt, nicht jene alptraumhafte uralter Gottheiten und Dämonen, in die ihn Petach gegen seinen Willen entführt hatte.
Erst nach einer Weile fühlte Aton die Kälte des Glases, an dem er lehnte. Schaudernd richtete er sich auf, hob die rechte Hand nach dem Telefonhörer und vergrub die linke in der Hosentasche. Er fand einige Münzen und einen kleinen, zerknitterten Zettel, den er achtlos auf die Ablage unter dem Telefon warf. Aber als er die Hand hob, um das Geld einzuwerfen, zögerte er. Wen sollte er anrufen? Seine Eltern waren jetzt vermutlich schon in Kairo, und er hatte weder in der Stadt noch in der näheren Umgebung irgendwelche Verwandte oder Freunde, an die er sich wenden konnte. Seine Großmutter fiel ihm ein, zu der Petach ihn ja eigentlich hatte bringen sollen, aber Aton verwarf den Gedanken gleich wieder. Er hatte erlebt, wie gefährlich es werden konnte, und seine geliebte Oma würde er auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Selbstverständlich konnte er einfach die Polizei anrufen, und selbstverständlich würde jemand kommen und ihn abholen, aber Aton konnte sich vorstellen, wie die Reaktion auf die Geschichte, die er zu erzählen hatte, aussah. Natürlich würde er es trotzdem tun, denn die Alternative war, hierzubleiben und auf Petach zu warten, aber vielleicht war es trotzdem klug, noch über andere Möglichkeiten nachzudenken.
Sein Blick fiel auf das Stück Papier, das er zusammen mit den Münzen in der Hosentasche getragen hatte. Er faltete es auseinander und strich es mit dem Handrücken glatt.
Es war eine Visitenkarte. Die Karte der jungen Polizistin. Unter der Nummer des Polizeireviers, auf dem sie Dienst tat, war auch ihre private Telefonnummer aufgeschrieben. Und sie hatte ihm eindeutig gesagt, daß er sie jederzeit anrufen konnte, wenn er Hilfe brauchte.
Kurz entschlossen tat er es. Es würde nicht viel ändern, denn Sascha war schließlich Polizeibeamtin und würde sich nach ihren Vorschriften richten, aber er hatte Vertrauen zu der jungen Frau gefaßt.
Das Freizeichen ertönte - zweimal, fünfmal, achtmal. Aton wollte gerade wieder einhängen, als abgehoben wurde und sich eine verschlafen klingende Stimme meldete: »Ja?«
»Ich bin es, Aton«, antwortete Aton. Plötzlich wußte er nicht, was er sagen sollte. »Vielleicht erinnern Sie sich«, stammelte er.
»Aton?« wiederholte Sascha mühsam. »Der Junge mit dem ägyptischen Freund. Vom Flughafen, gestern abend.«
»Ja«, antwortete Aton. »Sie haben gesagt, daß ich Sie anrufen könnte, und -«
»Sag mal, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« Saschas Stimme klang jetzt verärgert.
»Nein«, gestand Aton. »Aber ich weiß nicht, wo ich bin, wie ich zurückkommen soll, und -«
»Was ist los?« unterbrach ihn Sascha. Aus ihrer Stimme war jede Spur von Müdigkeit oder Zorn geschwunden. »Bist du in Gefahr?«
»Ja. Sie sind hinter mir her«, sagte Aton.
»Wer? Der Ägypter?«
Also hatte er recht mit seiner Vermutung gehabt, daß sie Petach mißtraute. Er nickte, dann fiel ihm ein, daß sie die Bewegung durch das Telefon nicht sehen konnte. »Ja. Er und der andere.«
»Welcher andere?«