Aton starrte ihm fassungslos nach. Ein eisiger Schauer des Entsetzens lief über seinen Rücken, als er die zertrümmerten Überreste der Telefonzelle betrachtete. Wäre er noch dort drinnen gewesen und nicht herausgekommen, um die Katze zu streicheln, dann - die Katzen!
Aton fuhr blitzschnell herum, aber statt drei war es nun ein ganzes Dutzend der kleinen, spitzohrigen Tiere, die im Halbkreis um ihn herumstanden und ihn anstarrten. Und obwohl Aton mit absoluter Gewißheit spürte, daß diese Wesen nicht seine Feinde waren, lief ihm erneut ein Schauer über den Rücken. Das waren keine normalen Tiere. Etwas war in ihrem Blick, was dort nicht hingehörte. Ein Wissen und eine Weisheit, die zu groß und zu alt waren, als daß er sie wirklich erfassen konnte. Langsam, Schritt für Schritt, wich er rückwärts gehend auf die Straße zurück. Die Katzen folgten ihm nicht, sondern starrten ihn weiter an.
Wieder hörte er ein Geräusch und fuhr erschrocken herum. Ein grelles Licht raste auf ihn zu. Aton hörte eine Bremse quietschen, dann das Aufheulen einer Hupe. Geblendet hob er die Hand über die Augen, aber er war noch gelähmt vor Schrecken und nicht in der Lage, sich zu rühren.
Der Wagen kam zwanzig Zentimeter vor ihm mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Die Tür wurde aufgerissen und eine schattenhafte Gestalt sprang heraus. Aton erkannte sie erst, als er in Saschas erschrockenes Gesicht blickte.
»Aton!« rief sie. »Bist du verrückt geworden? Beinahe hätte ich dich -« Sie brach mitten im Satz ab, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah. »Was ist los mit dir?« fragte sie. »Was hast du?«
Aton antwortete nicht. Sascha trat auf ihn zu und ergriff ihn an der Schulter, aber sie sagte nichts, und plötzlich weiteten sich ihre Augen, während ihr Blick auf einen Punkt hinter Aton gerichtet war. »Was ist denn das?« flüsterte sie.
Aton erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Rasch drehte er sich herum und sah, daß die Katzen näher gekommen waren. Es waren mehr geworden. Etwa an die zwei Dutzend Tiere befanden sich nur wenige Meter hinter ihm und bildeten in fast militärischer Präzision drei hintereinanderstehende Reihen.
Saschas Hand, die auf seiner Schulter lag, begann zu zittern. »Was ist denn das?« murmelte sie. »Was ... was geht hier vor?«
Noch ehe Aton antworten konnte, setzten sich die Katzen abermals in Bewegung. Sie taten es sehr langsam und wieder mit jener unheimlichen, fast menschlich anmutenden Gleichmäßigkeit. Aus den drei hintereinandergestaffelten Reihen wurde ein absolut exakter Halbkreis, in dessen Zentrum sich Sascha, Aton und der Wagen befanden. Und dieser Halbkreis bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam auf sie zu.
»Was bedeutet das?« murmelte die junge Frau.
»Wir sollten hier verschwinden«, sagte Aton. »Schnell.«
Das letzte Wort wäre nicht mehr nötig gewesen. Den Blick zwar noch immer starr auf die näher kommenden Katzen gerichtet, schob Sascha Aton rasch um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stieß ihn fast auf den Sitz. Dann umrundete sie den Wagen im Laufschritt, setzte sich hinter das Steuer und zog die Tür mit einem heftigen Ruck hinter sich zu. Die Katzen kamen immer noch näher. Etwas hatte sich geändert, das spürte Aton deutlich. An diesen Tieren war plötzlich nichts Freundliches mehr.
Sascha spürte dies vermutlich ebenso deutlich, denn sie legte so hastig den Rückwärtsgang ein, daß das Getriebe ein protestierendes Knirschen von sich gab, und ließ den Wagen mit aufheulendem Motor zehn, fünfzehn Meter zurückrollen, ehe sie wieder anhielt.
»Das ist geradezu ... gespenstisch«, murmelte sie. Ihre Stimme bebte. Die Katzen hatten ihre Formation abermals geändert und bildeten jetzt eine schnurgerade Reihe quer über die ganze Straße. Der Anblick war gespenstisch, aber zugleich auch noch viel mehr; eine Warnung, eine eindeutige, allerletzte Warnung, hierzubleiben. Und sie verstanden sie beide. Sascha wendete hastig den Wagen und fuhr los.
Aton drehte sich im Sitz herum, und auch Sascha starrte gebannt in den Rückspiegel, bis die Dunkelheit die unheimliche Katzenarmee verschlungen hatte. Aber die junge Polizistin hielt auch dann noch nicht an, sondern fuhr noch ein gutes Stück weiter, ehe sie - nach mehreren, nervösen Blicken in den Rückspiegel - langsam an den rechten Straßenrand heranfuhr. Sie hielt an, ließ den Motor aber laufen, und während sie sprach, irrte ihr Blick immer wieder zum Spiegel. »Das war ... das Unheimlichste, das ich jemals erlebt habe«, sagte sie. Sie war sehr blaß, und die Haltung, in der sie hinter dem Steuer saß, versuchte vergeblich Gelassenheit auszudrücken. Ihre Hände lagen auf dem Lenkrad, aber sie hielten es ein wenig zu fest, und ihr Fuß spielte unruhig mit dem Gaspedal, so daß der Motor immer wieder aufheulte. Sie schien das nicht zu bemerken.
»Ich glaube, es wird Zeit für ein paar Erklärungen«, sagte sie, während sie mit einer Hand eine Decke vom Rücksitz zog. »Für ein paar ehrliche Erklärungen, Aton«, fügte sie hinzu.
»Das ist nicht so leicht«, antwortete Aton. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Hände und Füße waren taub, und obwohl die Heizung des Wagens mit voller Kraft lief und er in die Decke gehüllt war, wollte die Kälte einfach nicht aus seinen Gliedern weichen.
»Was tust du hier«, fragte Sascha, »halb nackt, Kilometer von der Stadt entfernt und mitten in der Nacht? Und was hatten diese Katzen zu bedeuten?«
Aton fuhr sich mit der Zunge über seine rissig gewordenen Lippen. »Ich erzähle Ihnen alles«, sagte er. »Die ganze Geschichte, auch wenn Sie sie wahrscheinlich nicht glauben werden. Aber nicht jetzt. Ich denke, es ist besser, wenn wir erst einmal hier verschwinden.«
Sascha antwortete nicht, sie warf erneut einen Blick in den Rückspiegel des Wagens, der Antwort genug war. Es war deutlich zu erkennen, daß sie versuchte, eine Erklärung für das zu finden, was sie einfach nicht glauben konnte - obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. »In Ordnung«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Ich nehme dich erst einmal mit zu mir nach Hause und versuche dich wieder aufzutauen. Aber danach will ich keine Ausreden mehr hören, sondern nur noch die Wahrheit.«
»Versprochen«, sagte Aton - und er meinte es so. Er würde ihr die ganze Geschichte erzählen, jedes einzelne Detail, wenn sie darauf bestand, und er würde die Wahrheit sagen - auch, wenn er sich Saschas Reaktion auf diese Wahrheit lebhaft vorstellen konnte.
»Was ist mit der Telefonzelle passiert?« fragte Sascha plötzlich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
»Das ... werde ich Ihnen dann auch erklären«, antwortete Aton ausweichend, »wenn wir in Sicherheit sind.«
Er wich ihrem Blick aus, aber er konnte fühlen, wie Sascha ihn von der Seite her anstarrte, während sie weiterfuhren.
»Da bin ich aber mal gespannt«, murmelte sie.
Aton hielt es für klüger, darauf nicht zu antworten, sondern lehnte sich in die Polster des Wagens zurück und versuchte sich zu entspannen. Das Auto erfüllte ihn mit demselben Gefühl von Sicherheit wie die Telefonzelle vorhin; und aus denselben Gründen.
Und wie sich bald zeigen sollte, war es eine ebenso trügerische Sicherheit.
Sie waren vielleicht fünf Minuten gefahren, als plötzlich vor ihnen ein unheimliches gelbes Licht erschien. Zuerst hielt Sascha es wohl für die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens, denn sie hob zwar die Hand vor die Augen und blinzelte, war aber nicht im mindesten beunruhigt. Aber das Licht wurde rasend schnell größer, überstrahlte plötzlich die ganze Straße, und dann erschien in seinem Zentrum wie aus dem Nichts wieder der Streitwagen!
Sascha ließ ein ungläubiges Keuchen hören, aber sie bewies Geistesgegenwart genug, um auf die Bremse zu treten und gleichzeitig ein Ausweichmanöver zu versuchen. Der Wagen schlitterte auf blockierenden Reifen auf die Erscheinung zu, verfehlte sie buchstäblich um Haaresbreite und wäre beinahe von der Straße abgekommen, als Sascha erschrocken das Lenkrad verriß. Im allerletzten Moment gewann sie die Kontrolle über den schweren Wagen zurück und trat erneut, aber viel vorsichtiger, auf die Bremse. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen.