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Einige Sekunden war es sehr still im Wagen. Sie saßen beide wie gelähmt da, benommen von dem Zusammenstoß und der Katastrophe, der sie um Haaresbreite entgangen waren.

Schließlich war es Sascha, die ihren Schrecken als erste überwand.

»Bist du verletzt?« fragte sie. Ihre Stimme klang flach, und sie war sehr blaß. In ihren Augen stand ein Entsetzen geschrieben, das nichts mit dem Zusammenstoß und dem, was dem Wagen widerfahren war, zu tun hatte.

Aton schüttelte nur den Kopf, und Sascha öffnete mit zitternden Fingern die Tür und stieg aus. Einen Moment später verließ auch Aton den Wagen.

Sofort hielt er nach dem Streitwagen Ausschau, aber dieser war nicht zu sehen. Sie waren nicht sehr weit von der Straße abgekommen, und es gab weit und breit nichts, was ein so großes Gebilde wie den Wagen und die Pferde hätte verbergen können, selbst wenn beide umgestürzt und zerschmettert gewesen wären. Aber er war nicht da.

Langsam, mit klopfendem Herzen und jederzeit darauf gefaßt, den Streitwagen wieder wie ein Gespenst aus dem Nichts auftauchen zu sehen, bewegte sich Aton auf die Straße zu. Nirgends war auch nur eine Spur des Unheimlichen und seines Gefährts zu entdecken. Es gab keine Trümmer, keine Bruchstücke. Sie hatten ihn frontal gerammt, und er hätte in tausend Teile zersplittern müssen, aber alles, was sie sahen, war eine Wolke aus grauem Staub, die sich nur allmählich senkte.

»Soviel zu deiner Frage von vorhin«, sagte Aton leise. Sascha sah ihn verständnislos an, und er fügte hinzu: »Was mit der Telefonzelle passiert ist.«

Sascha antwortete nicht, aber ihr Blick sprach Bände. Ihr Vorrat an Humor und Ironie schien im Moment ziemlich begrenzt zu sein.

Sie gingen weiter, immer noch vergeblich nach den Trümmern des Kampfwagens und der Leichen der Pferde Ausschau haltend. Nichts dergleichen war zu sehen. Es gab nur den grauen Staub, der sich langsam auf die Straße senkte und eine flockige Schicht bildete.

»Das ist ... unglaublich«, flüsterte Sascha. »Er muß regelrecht pulverisiert worden sein! Aber wie ... wie ist das möglich?«

Aton wollte antworten, doch in diesem Moment sah er etwas, was das Gefühl der Erleichterung, das sich gerade in ihm breitmachen wollte, jäh wieder zerstörte. Der Staub bewegte sich. Im allerersten Moment glaubte er, es wäre der Wind, der ihn aufwirbelte, aber das stimmte nicht. Es gab ein Muster darin, das zwar nicht zu erkennen, ebensowenig aber zu übersehen war. Hier bildete sich ein kleiner Wirbel, da eine Welle, dort schien etwas unter seiner Oberfläche entlangzukriechen ... überall war zuckende, strudelnde Bewegung, die immer stärker wurde. Vor Atons und Saschas ungläubig aufgerissenen Augen begann sich der Staub zu kleinen Klümpchen und Wellen zusammenzuziehen, die zitternd aufeinander zukrochen und größere, unheimliche Formen bildeten.

Ein Teil eines Rades tauchte aus der Oberfläche des Staubsees auf, eine mit Leinen umwickelte Hand, ein Stück eines zerbrochenen Schildes, in einiger Entfernung gar etwas wie ein halbierter Pferdekopf, und immer mehr und mehr Staub bewegte sich aus allen Richtungen heran, um sich dem unheimlichen Prozeß anzuschließen. Selbst die Luft war plötzlich nicht mehr ruhig. Die auseinandergewirbelten Schwaden trieben, der Kraft des Windes und den Gesetzen der Natur spottend, wieder zusammen, und Aton spürte, wie sich selbst der Staub, der sich in seinen Kleidern und seinen Haaren festgesetzt hatte, löste und zu dem immer lebendiger werdenden Zentrum zuflog.

»Nichts wie weg!« rief Sascha. Sie ergriff Atons Arm, fuhr auf dem Absatz herum und zerrte ihn mit sich. So schnell sie konnten, rannten sie zum Auto zurück und sprangen hinein.

Aton erlebte noch einen letzten, schreckerfüllten Moment, als der Motor des Wagens sich weigerte, anzuspringen. Doch schließlich, beim vierten oder fünften Versuch, erwachte er doch zum Leben, und sie hatten wieder Glück - der Waldboden neben der Straße war so hart gefroren, daß das Auto nicht eingesunken war, und die Schäden, die es davongetragen hatte, erwiesen sich als nicht so schlimm, wie Aton im ersten Moment befürchtet hatte.

Während die Mumie und ihr unheimliches Gefährt hinter ihnen aus dem Staub neu zu entstehen begannen, lenkte Sascha den Wagen wieder auf die Straße zurück und nahm Kurs auf die Lichter der Stadt, die noch immer in weiter Entfernung schimmerten.

Kriegsrat

In dieser Nacht hatte er wieder seinen Traum. Aton erinnerte sich nicht an Einzelheiten, aber er erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und sein Atem ging so schnell, als wäre er nicht nur im Traum, sondern wirklich stundenlang durch düstere Gänge und unterirdische Gewölbe geirrt, gejagt von einem gesichtslosen Schatten. Die Furcht saß ihm noch tief in den Knochen, so daß auch nach seinem Erwachen noch eine Minute verging, bis er es wagte, die Augen zu öffnen und sich umzusehen.

Seine Umgebung war ihm fremd, aber sie war durchaus normal. Keine gemauerten Gänge aus tonnenschwerem Stein, keine Treppen, die ins Nichts führten, keine Ungeheuer, die in den Schatten lebten. Er befand sich in einem ganz normalen, wenn auch etwas spärlich eingerichteten Zimmer. Die Gardinen waren zugezogen, aber durch den Stoff schimmerte helles Tageslicht, und von irgendwoher kam ganz leise Radiomusik.

Aton setzte sich langsam auf. Er war so abrupt erwacht, daß er einige Augenblicke brauchte, seine Gedanken und Erinnerungen zu sortieren und sich wieder darauf zu besinnen, wo er überhaupt war: in Saschas Wohnung. Sie waren am vergangenen Abend ohne Umwege direkt hierhergefahren, und anders, als Aton erwartet hatte, hatten sie den Rest der Nacht nicht damit verbracht, stundenlang zu reden und über das Geschehene nachzudenken. Die junge Frau hatte seine zahllosen Schrammen und Kratzer notdürftig versorgt und ihn dann unverzüglich ins Bett geschickt, und zu seiner eigenen Überraschung war Aton auf der Stelle eingeschlafen.

Er fragte sich, wie spät es war. Er konnte nirgends eine Uhr entdecken, aber das Licht verriet ihm, daß der Tag schon lange angebrochen sein mußte. Mit einem Ruck schwang er sich aus dem Bett und sah sich ein zweites Mal und aufmerksamer im Zimmer um. Dabei entdeckte er ein sauber gefaltetes, weißes Hemd, gleichfarbige Socken und Turnschuhe auf einer kleinen Kommode neben der Tür. Alle Dinge paßten, als wären sie für ihn gemacht; schließlich hatte Sascha genau seine Größe und, da sie sehr schlank war, auch beinahe seine Statur.

Er zog sich an, verließ das Zimmer und ging in die Richtung, aus der die Musik kam. Die Wohnung war überraschend groß, aber zur Gänze ebenso spärlich eingerichtet wie das Zimmer, in dem er erwacht war. Im Wohnzimmer gab es nur einen Tisch mit dazugehörigen Stühlen, eine Anrichte und ein einfaches Holzregal, auf dem das Radio stand, das er gehört hatte. Das danebenliegende Schlafzimmer war gar nur mit einem einfachen, wenn auch sehr großen Bett ausgestattet, und auch in Küche und Bad entdeckte er nur das absolut Notwendigste. Seine neue Verbündete schien keinen Wert auf weltlichen Besitz zu legen. Es gab weder Bilder noch Bücher, und noch etwas Entscheidendes fehlte: Sascha. Aton rief ein paarmal ihren Namen und lief durch alle Räume, dann trat er an eines der Fenster. Es führte auf einen kleinen Hinterhof hinaus, in dem Sascha stand und ihren Wagen betrachtete - genauer gesagt das, was davon übrig war.

Aton verließ die Wohnung, lief die Treppe hinunter und trat in den kleinen, an allen Seiten von einer Mauer umschlossenen Innenhof. Sascha blickte hoch, als sie das Geräusch der Tür hörte, und ein flüchtiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das aber den niedergeschlagenen Ausdruck nicht ganz überdecken konnte.