»Wann?« fragte Aton.
»Meine Schicht geht bis acht«, erklärte Sascha. »Vielleicht kann ich es so einrichten, daß ich zwischendurch kurz herkomme. Ich bin auf jeden Fall pünktlich zurück. Und ich bringe uns etwas zu essen mit. Magst du Pizza?«
Eigentlich gehörte Pizza nicht unbedingt zu Atons Lieblingsgerichten, aber er nickte. Sascha verließ die Küche und kam wenige Augenblicke später wieder zurück, jetzt in der grünen Uniform, in der Aton sie kennengelernt hatte. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, im Schlafzimmer einen Kleiderschrank gesehen zu haben.
Nachdem Sascha ihm noch einmal eingeschärft hatte, das Haus unter keinen Umständen zu verlassen, telefonierte sie nach einem Taxi und ging. Aton blieb allein zurück, und die Tür hatte sich kaum hinter ihr geschlossen, da kamen auch die Einsamkeit und das Gefühl des Verlassenseins wieder, die die Gegenwart der jungen Frau für eine kurze Weile vertrieben hatte. Eigentlich nur um auf andere Gedanken zu kommen, begann er den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Als er die Tassen und Teller einräumte, stellte er fest, daß der Schrank ansonsten vollkommen leer war, und auch die beiden Kaffeelöffel lagen einsam in der Schublade.
Aton ging ins Wohnzimmer zurück und sah sich nach irgend etwas um, womit er sich die Zeit vertreiben konnte, aber er wurde nicht fündig. Es schien in diesem Haus kein einziges Buch zu geben, und auch nach einem Fernseher hielt er vergebens Ausschau. Das Radio war ein billiges Transistorgerät, das nur einen einzigen Sender zu empfangen schien, sosehr er auch an der Skala drehte. Diese Wohnung war wirklich seltsam. Hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, daß hier eigentlich niemand lebte.
In Ermangelung irgendeiner anderen Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben, setzte er sich an den Tisch, bettete den Kopf auf die Arme -
und fand sich praktisch auf der Stelle in seinem Traum wieder. Es war die gleiche Szenerie, die er seit Jahren kannte. Wieder irrte er durch lange, finstere Gänge, deren Wände mit unheimlichen Bildern aus einer jahrtausendealten Vergangenheit übersät waren. Wieder wußte er, daß er seit Stunden herumirrte und verzweifelt den Ausgang suchte, sich dabei aber immer nur tiefer und tiefer in das schier endlose unterirdische Labyrinth hineinbewegte, und wieder spürte er, daß etwas hinter ihm war, was ihm folgte. Er hatte all seinen Mut zusammengerafft und den immer schwächer werdenden Strahl der Taschenlampe in die Dunkelheit hinter sich gerichtet, aber nichts gesehen. Trotzdem war etwas da. Er konnte spüren, daß es ihn belauerte, und er glaubte das Tappen großer, weicher Pfoten zu vernehmen, manchmal sogar ein unheimliches, raschelndes Atmen. Die Schimäre war hinter ihm, aber wie es nun einmal die Art von Alptraum-Wesen war, blieb sie stets am Rande des Sichtbaren, ein formloser Schatten, zu undeutlich, um ihn zu erkennen, aber auch mit zuviel Substanz, um bloße Einbildung zu sein.
Er hatte das Ende seiner Kräfte erreicht. Er war fünf Jahre alt, und was ihm das stundenlange Umherirren in den Gängen nicht geraubt hatte, das hatte ihn die Angst gekostet, die immer schlimmer wurde. Er wollte hier heraus. Er wollte wieder ans Licht, an die Sonne, und er wollte zurück zu seinen Eltern.
Auch ohne das Ding hinter sich wäre er halb verrückt vor Angst gewesen, so war die Furcht fast mehr, als er ertragen konnte. Vor einigen Minuten hatte er eine Treppe gefunden, eine Treppe mit Stufen, die so hoch waren, daß er sie einzeln emporklettern mußte. Jetzt schleppte er sich wieder durch einen weiteren, steinernen Gang, und der einzige Grund, aus dem er nicht aufgegeben hatte, war der, daß der Gang nach oben führte, nicht so steil wie die Treppe, aber spürbar aufwärts, in die Richtung, in der das Tageslicht und die Menschen waren.
Die Batterien seiner Lampe begannen nun immer schneller nachzulassen, und der Moment, in dem sie endgültig erlöschen würde, war nicht mehr fern.
Plötzlich sah er ein Licht vor sich. Sehr weit vor sich und auch sehr schwach. Es war kaum mehr als ein Hauch, ein mattgelber Schimmer, den er mehr erahnte als wirklich sah, aber er wurde stärker, ah er sich darauf zubewegte, und der Anblick erfüllte ihn mit einer solchen Hoffnung, daß er rascher ausschritt. Er war sogar geistesgegenwärtig genug, die Lampe auszuschalten, um die ohnehin fast aufgebrauchten Batterien zu schonen. Die Dunkelheit schien dadurch irgendwie stofflicher zu werden, und er hatte das Gefühl, daß ihm die Schwärze den Atem abschnürte doch zumindest für den Moment noch war die Vernunft stärker als die Furcht - er sagte sich, daß er die Batterien später vielleicht noch dringend benötigen würde, und drängte die Angst tapfer zurück.
Der Lichtschein kam näher. Bald sah er, daß er aus einer hohen Tür fiel, die in die rechte Seite des Ganges eingelassen war. Es war kein Tageslicht, wie er enttäuscht feststellte, sondern ein gelblicher Schein, wie von einer Fackel, der aber nicht flackerte.
Künstliches Licht aber bedeutete, daß dort vorne Menschen waren, und Menschen bedeuteten einen Ausgang aus diesem Labyrinth. Der Gedanke gab ihm noch einmal Kraft. Er verfiel in einen leichten Laufschritt, aber er hatte die Gefahren der Dunkelheit vergessen. Er stolperte, wäre um ein Haar gestürzt und prallte gegen die Wand.
Als er sich wieder aufrichtete, hörte er das Geräusch.
Eigentlich war es die ganze Zeit hinter ihm gewesen, nur hatte er es nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Vielleicht hatte er es auch nicht hören wollen. Aber jetzt war es zu deutlich, um es weiter zu ignorieren: Schritte. Nicht die Schritte von Menschen.
Die Schritte eines Wesens mit mehr als zwei Beinen und großen, tappenden Pfoten, aber auch harten Krallen, die über den Stein scharrten. Aus angstvoll aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Er konnte nicht wirklich etwas sehen, aber seine Furcht erfüllte die Schwärze mit wirbelnden Schatten und formlosen, schrecklichen Dingen, die auf ihre Weise vielleicht schlimmer waren, als hätte er tatsächlich etwas gesehen. Noch ehe der Schatten wirklich Gestalt annehmen konnte, fuhr er herum und rannte auf die Tür zu, so schnell er nur konnte.
Der unsichtbare Verfolger holte rasch auf. Das Tappen kam immer schneller näher, und er hörte jetzt ein rasselndes Atmen, wie das Hecheln eines Hundes, aber ungleich drohender, böser. Er wagte es nicht, zu seinem Verfolger zurückzublicken, denn er wußte, daß er ihn im selben Moment einholen würde, in dem er es tat, wie es alle Ungeheuer in seinem Traum taten. Erst als er nur mehr einen einzigen Schritt von der Tür und dem rettenden Licht entfernt war, wagte er es, im Laufen den Kopf zu drehen und einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen.
Er wünschte sich, er hätte es nicht getan. Aus dem Schatten war ein Etwas geworden, ein riesiges, vierbeiniges Scheusal mit Zähnen und Klauen und roten Augen, die wie Tümpel aus kochendem Blut in einem Gesicht aus Schwärze waren. Was er befürchtet hatte, geschah: Im selben Augenblick, in dem er die Schimäre ansah, sprang sie. Ihr riesiges Maul klappte auf und zeigte spitze Zähne. Krallenbewehrte Pfoten streckten sich nach ihm aus. Er schrie vor Schreck und Todesangst, warf sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung durch die Tür und -
erwachte. Sein Herz raste. Sein Hals tat weh, und in seinen Ohren war noch das Echo des Schreis, den er tatsächlich ausgestoßen hatte. Anders als am Morgen war Aton sofort und vollkommen wach und wußte, daß er nur seinen Traum geträumt hatte. Aber in die Angst, die ihn auch jetzt wieder ein kleines Stück weit in die Welt der Wirklichkeit und des Wachseins hinein verfolgt hatte, mischte sich ein beinahe ebenso starkes Gefühl der Enttäuschung. Dieser Traum war anders gewesen als alle zuvor. Er hatte sich bisher nicht an diesen Teil seines Abenteuers erinnert, aber er spürte, daß es eine sehr wichtige Erinnerung gewesen wäre. Eine Sekunde länger, dachte er. Hätte er den Traum eine Sekunde länger geträumt und gesehen, was auf der anderen Seite der Tür lag, dann hätte er vielleicht endlich alles begriffen.