Aton erstarrte mitten in der Bewegung. Er konnte Sascha nur als Schatten vor sich erkennen, wie sie angespannt lauschte, und Aton tat es ihr gleich.
Rings um sie waren die natürlichen Geräusche des Hauses: das kaum wahrnehmbare Summen der Heizung tief unten im Keller, gedämpfte Stimmen, Musik und die Geräusche der Fernsehgeräte, die in den anderen Wohnungen liefen, und ganz fern der Verkehrslärm der Stadt, der von draußen hereindrang. Aber das war nicht alles. Unter all diesen Lauten war noch etwas, ein Geräusch, das gar nicht richtig hörbar, aber so fremd und bedrohlich war, daß er es sofort registrierte. Etwas war hier.
»Was ist das?« flüsterte er.
Sascha deutete ihm, still zu sein, löste die Hand von seinem Arm und trat an ihm vorbei. Er konnte sehen, wie sich ihre Rechte auf die Pistolentasche senkte und sie öffnete, die Waffe aber noch nicht zog. Ihre ganze Haltung drückte höchste Konzentration aus.
Das Geräusch wurde deutlicher. Es hatte immer noch nicht die Schwelle überschritten, jenseits derer er es wirklich identifizieren konnte, aber es war ein Laut, den er trotz aller Fremdartigkeit schon einmal gehört hatte - und diese Erinnerung war mit einem so deutlichen Gefühl von Gefahr verbunden, daß sein Herz von einer Sekunde auf die andere zu rasen begann.
Unter ihnen im Hausflur war das Scharren krallenbewehrter Pfoten über Stein, das Gleiten eines mächtigen Körpers, der sich mühsam die Treppe hinaufzuschieben begann ... und dann wußte Aton plötzlich, woher er dieses Geräusch kannte.
Es war das Ungeheuer aus seinem Traum. Die Schimäre hatte ihn gefunden. Sie hatte zehn Jahre nach ihm gesucht, und nun war sie hier, um zu Ende zu bringen, was ihr damals nicht gelungen war.
Ohne auf Saschas warnende Geste zu achten, trat Aton an ihr vorbei und lehnte sich über das Treppengeländer, um nach unten zu sehen. Was immer dort unten war, konnte nicht so schlimm sein wie das, was ihm seine Phantasie vorgaukelte.
Er blickte direkt in ein Paar gewaltige rotglühende Augen, die zu einem schattenhaften Körper von so bizarrer Form gehörten, daß sein Verstand sich einfach weigerte, ihn richtig wahrzunehmen. Und jetzt schoß seine mühsam zurückgehaltene Furcht mit solcher Plötzlichkeit in ihm hoch, daß er einen gellenden Schrei ausstieß und so heftig zurücksprang, daß er Sascha um ein Haar von den Füßen gerissen hätte.
Hilflos taumelte er gegen das Treppengeländer, rappelte sich wieder hoch und - hinter ihm stand die Mumie. Der Krieger war keine zwei Meter mehr von ihm entfernt, und diesmal kam Atons Reaktion zu spät. Eine Hand von unmenschlicher Stärke packte ihn, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß ihm die Luft wegblieb und er keuchend zu Boden sank. Die schiere Todesangst gab ihm die Kraft, sofort wieder hochzuspringen, aber der andere war einfach stärker. Aton spürte einen grausamen Schlag, der ihn ein zweites Mal in die Knie brechen und halb bewußtlos werden ließ, dann wurde er erneut gepackt und auf den Rücken geworfen. Der Unheimliche beugte sich über ihn. In seiner Hand blitzte plötzlich ein Dolch. Die tödliche Klinge näherte sich seinem Gesicht, seiner Kehle.
Ein Schuß fiel. In der Enge des Hausflures hallte das Geräusch als dutzendfach gebrochenes Echo wider, und Aton konnte sehen, wie die Kugel die Mumie direkt über dem Herzen traf. Eine winzige Staubwolke stieg aus den dreitausend Jahre alten Stoffstreifen hoch, eine zweite, deutlich größere, löste sich von ihrem Rücken, als das Geschoß den Körper ohne sichtbaren Widerstand durchdrang und hinter ihm in die Wand fuhr. Der niederfahrende Dolch verfehlte Atons Kehle und schlug neben ihm Funken aus dem Boden, und Aton reagierte ganz instinktiv auf die einzig richtige Art: Mit einer verzweifelten Bewegung richtete er sich auf und stieß dem Unheimlichen die flachen Hände vor die Brust.
Die Mumie taumelte, geriet aus dem Gleichgewicht und prallte gegen das Geländer. Der Dolch entglitt ihren Fingern und fiel klirrend zu Boden, einen Augenblick später ließ sie auch den schweren Metallschild fallen und kämpfte um ihre Balance. Jetzt hatte Sascha das freie Schußfeld, auf das sie gewartet hatte: drei-, vier-, fünfmal hintereinander drückte sie ab. Aus der Brust der Mumie explodierten graue Staubwolken, und wenn die Kugeln sie auch nicht verletzen konnten, so entschieden sie doch den Kampf, den der Unheimliche mit der Schwerkraft ausfocht. Er kippte rücklings über das Geländer und verschwand lautlos in der Tiefe. Zwei Sekunden später klang ein dumpfer Aufprall von unten zu ihnen herauf.
Das Geräusch war noch nicht ganz verklungen, da erscholl ebenfalls von unten ein ungeheuerliches, zorniges Brüllen. Es war nicht die Stimme eines Menschen, auch nicht die eines Tieres. Es war ein Brüllen wie der Schrei eines zornigen Gottes, der das ganze Haus zu erschüttern schien und irgend etwas in Aton zum Erstarren brachte. Er konnte hören, wie aus dem Tappen der Pfoten auf der Treppe ein rasendes Galoppieren wurde. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern. Etwas Riesiges, Schwarzes mit rotglühenden Augen stampfte die Treppe herauf, so schnell wie der Wind und so unaufhaltsam wie eine Lawine. Aton stand da, vollkommen unfähig, irgend etwas zu tun oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, doch Sascha ergriff ihn am Arm und zerrte ihn mit sich in die Wohnung zurück. Mit einem Krachen flog die Tür hinter ihnen ins Schloß, und Sascha warf sich zusätzlich mit der Schulter dagegen und legte mit fliegenden Fingern die Kette vor.
»Lauf!« schrie sie Aton zu. »Das Fenster im Gästezimmer!«
Aton gehorchte. Während Sascha in verzweifelter Hast versuchte, die kleine Kommode vor die Tür zu rücken, rannte er zum Gästezimmer, stieß die Tür auf und war mit einem einzigen Satz am Fenster. Er wußte, daß unter ihm ein zwei Stockwerke tiefer Abgrund lag - doch als er das Fenster aufriß, entdeckte er etwas, was ihm bisher entgangen war: Neben dem Fenster führte eine schmale eiserne Leiter in die Tiefe.
Ein dröhnender Schlag erschütterte die Wohnung. Aton drehte sich herum und sah, wie Sascha hilflos von der Tür zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. In der Tür war ein Riß entstanden, die Kommode war umgestürzt, und jetzt traf ein zweiter Schlag die Wohnungstür. Eine mächtige, krallenbewehrte Tatze erschien inmitten des zersplitternden Holzes, und eine Sekunde später wurde die Tür vollends aus den Angeln gerissen. Ein schwarzes, löwenmähniges Ungeheuer erschien in der gewaltsam geschaffenen Öffnung. Saschas Entsetzensschrei ging in einem urzeitlichen Brüllen und Knurren unter, mit dem sich die Bestie vollends hereinschob.
Sie hatte den Körper eines Löwen, aber unter der gewaltigen schwarzen Mähne nicht das Gesicht einer Raubkatze, sondern ein entfernt menschliches Antlitz und dazu ein Paar schwarz gefiederter Flügel, die so groß waren, daß es sie im Inneren der Wohnung nicht einmal zur Hälfte entfalten konnte.
»Aton!« schrie Sascha. »Bring dich in Sicherheit! Ich halte es auf!«
Der Kopf des Ungeheuers ruckte herum, als es Saschas Stimme hörte. Der Blick seiner riesigen rotglühenden Augen richtete sich voller Bosheit auf die junge Frau, die mit hastigen Bewegungen versuchte, ihre Waffe nachzuladen, obwohl die Pistole bei diesem Monstrum vermutlich noch viel weniger nutzen würde als bei der Mumie.
»Aton! Lauf!« schrie Sascha noch einmal. Sie hob ihre Waffe - und die Sphinx machte eine nachlässige Bewegung mit der linken Tatze, die Sascha quer durch den Vorraum fliegen ließ.
Mit einem einzigen Schritt folgte die Bestie ihrem Opfer und hob die Klaue zu einem vernichtenden Hieb. Sascha riß beide Arme vor das Gesicht - und Aton war mit einem einzigen Satz bei ihr und sprang das Ungeheuer mit weit ausgebreiteten Armen an.
Es war, als wäre er gegen einen Fels geprallt. Was wie weiches Fell aussah, das spannte sich über stahlharte Muskeln. Aton taumelte zurück und fiel, sein Angriff hatte das Ungeheuer nicht einmal erschüttert.