Aber die Klaue, die zum tödlichen Hieb erhoben über Sascha schwebte, sank hernieder, langsam drehte die Bestie den Kopf, fixierte nun Aton aus ihren schrecklichen, blutfarbenen Augen und begann sich ihm zu nähern. Ihre Krallen rissen tiefe Furchen in den Boden, und die halb entfalteten Schwingen fetzten Tapeten und Putz von den Wänden. Der peitschende Schwanz zertrümmerte die wenigen Möbelstücke, die das Eindringen der Bestie übriggelassen hatte.
Aton wich Schritt für Schritt zurück. Verzweifelt sah er sich nach einem Fluchtweg um, aber es gab keinen - die Sphinx hatte ihn in eine Ecke gedrängt, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Noch einen Schritt, und sie hatte ihn.
Ein zweiter schwarzer Schatten wirbelte durch die Türöffnung herein. Er war viel kleiner als die Sphinx, aber ebenso schnell und ebenso wild, und das Ungeheuer schien die Gefahr zu spüren, die plötzlich hinter ihm auftauchte, denn es ließ unvermittelt von Aton ab und fuhr herum. Aber diesmal war ihm seine eigene Größe hinderlich - in der Enge des Zimmers vermochte es sich einfach nicht schnell genug zu bewegen, und der neu aufgetauchte Angreifer prallte gegen seine Flanke, noch ehe es die Drehung gänzlich vollendet hatte.
Obwohl der Angreifer viel kleiner war als die Sphinx, riß sein Anprall das Monstrum von den Beinen. Die beiden Tiere stürzten krachend zu Boden, so daß das ganze Haus erzitterte, und Aton sah sich plötzlich von der nächsten Gefahr bedroht: Statt von den Zähnen und Klauen der Sphinx in Stücke gerissen zu werden, drohte der zentnerschwere Körper ihn jetzt niederzuwalzen. Aton brachte sich mit einem verzweifelten Sprung in Sicherheit, und nur den Bruchteil einer Sekunde später kollerten die Sphinx und der große schwarze Hund, der sich in ihrer Flanke verbissen hatte, dort entlang, wo er gerade noch gestanden hatte. Die beiden kämpfenden Ungeheuer prallten gegen die dünne Gipswand zwischen Diele und Wohnzimmer, die unter dem Gewicht der Kämpfenden zusammenbrach. Schlagende Flügel, Krallen und Fänge zertrümmerten Saschas ohnehin spärliche Einrichtung vollkommen.
Aton sah dem verbissenen Ringen der beiden nur einen Moment lang zu. Anubis war viel kleiner als die Sphinx, schien ihr aber trotzdem zumindest ebenbürtig, so daß keiner der beiden ungleichen Gegner einen entscheidenden Vorteil erringen konnte. Aton wartete auch nicht ab, wie der Kampf enden mochte - er war mit ein paar raschen Schritten bei Sascha und kniete neben ihr nieder.
Die junge Frau öffnete die Augen, als er sie berührte. Ihr Blick war verschleiert, aber Aton konnte zumindest keine äußerlichen Verletzungen erblicken. »Bist du in Ordnung?« fragte er.
Sascha sah ihn nur verständnislos an. Sie mußte wohl für einen Moment das Bewußtsein verloren haben, denn sie schien gar nicht zu begreifen, wovon er sprach. »Eje ...« murmelte sie. »Wo ist ...« Sie brach ab, richtete sich mit einem Ruck vollends auf, und dann konnte Aton regelrecht sehen, wie etwas in ihren Blick zurückkehrte, was vorher nicht darin gewesen war. Sie sah die beiden kämpfenden Ungeheuer nur kurz an, dann fuhr sie herum und zog Aton mit sich in Richtung auf die Tür.
Draußen im Hausflur war das Licht angegangen. Einige Wohnungstüren standen offen, und verschreckte, fragende Gesichter blickten ihnen entgegen, aber Sascha hetzte weiter und zerrte Aton so schnell hinter sich her, daß er alle Mühe hatte, nicht von den Füßen gerissen zu werden. Sie kamen zur Treppe, sprangen sie, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinunter, und als sie den letzten Absatz erreichten, stand die Mumie wieder vor ihnen. Schild und Dolch lagen noch oben vor Saschas Wohnungstür, doch der Ungeheuerliche trug seine Lanze bei sich. Mit weit ausgebreiteten Armen vertrat er ihnen den Weg und segelte plötzlich in hohem Bogen durch die Luft, als Sascha einen seiner Arme packte und ihn mit einem perfekten Judogriff zu Fall brachte.
Natürlich vermochte auch dieser Angriff die Mumie nicht zu verletzen. Nichts konnte ihr wirklichen Schaden zufügen. Aber sie wurde meterweit davongeschleudert, und noch bevor sie sich wieder aufrichten konnte, hatten Sascha und Aton die Haustür erreicht und stürmten ins Freie. Hinter ihnen erscholl ein zorniger Schrei. Die Lanze des Mumienkriegers zertrümmerte die Glastür, prallte nur eine Handbreit neben Sascha auf den Boden und rutschte klappernd davon.
Aton wollte sich nach links wenden, aber Sascha zerrte ihn in die andere Richtung und deutete mit der freien Hand auf einen Wagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Grob stieß sie ihn hinein, rannte um die Motorhaube und war hinter dem Steuer, noch bevor Aton die Tür richtig hinter sich zugezogen hatte. Der Zündschlüssel steckte, und der Motor schien anzuspringen, noch bevor Sascha ihn wirklich berührt hatte. Mit durchdrehenden Reifen rasten sie los.
Aton drehte sich im Sitz herum und sah zum Haus zurück. Obwohl Sascha aus dem Wagen herausholte, was sie konnte, sah Aton noch, wie die Haustür plötzlich in tausend Stücke zertrümmert wurde, die in weitem Umkreis auf die Straße herabregneten. Etwas Riesiges, Schwarzes mit roten Augen, Krallen und Flügeln brach aus dem Gebäude heraus. Dann hatten sie die erste Kreuzung erreicht und bogen mit quietschenden Reifen um die Kurve, und das Haus und das Ungeheuer waren Atons Blicken entzogen.
Das sichere Haus
Es dauerte eine geraume Weile, bis Aton das unangenehme Schweigen brach, das sich nach ihrer Flucht im Wagen ausgebreitet hatte, und er tat es mit einer ziemlich banalen Frage: »Woher hast du diesen Wagen?«
»Er gehört einem Freund«, antwortete Sascha. »Ich habe ihn mir geliehen, weil ich mir dachte, daß wir ihn vielleicht ...«
Sie zögerte und lachte nervös. »... benötigen würden. Allerdings hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir ihn so dringend brauchen.« Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Straßenverkehr, der trotz der vorgerückten Stunde noch dicht war.
Aton sah aus dem Fenster. Der Anblick der Passanten, der hellerleuchteten Schaufenster, der Autos und Straßenbahnen hatte etwas sehr Beruhigendes. Aber er machte ihm zugleich auch klar, wie dünn die Mauer in Wahrheit war, die sich zwischen dieser und jener anderen unheimlichen Welt befand, in der Petach und die Gespenster der Vergangenheit lebten. Er drehte sich herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Aber auch hinter ihnen war nichts als andere Autos und Passanten.
»Glaubst du, daß sie uns verfolgen?« fragte Sascha, der dies natürlich nicht entgangen war.
Aton hätte gern mit einem überzeugten Nein geantwortet, aber er konnte es nicht. Bisher hatten die Dämonen aus der Vergangenheit stets zugeschlagen, wenn er allein gewesen war oder in einer menschenleeren Gegend. Aber Saschas Wohnung lag in einem ganz normalen Haus, in dem auch andere Menschen lebten. Vielleicht gab es nirgends völlige Sicherheit. So antwortete er zögernd: »Ich hoffe nicht.«
»Das war verdammt knapp«, sagte Sascha und schauderte. »Eine halbe Sekunde später, und ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern warf ihm einen Blick zu. »Das war ziemlich leichtsinnig von dir, weißt du das?«
»So?« gab Aton zurück, in einem Tonfall, der schärfer ausfiel, als er beabsichtigt hatte. »Du hast eine seltsame An, danke zu sagen.«
»Ich weiß, daß du mir das Leben gerettet hast«, antwortete Sascha ernst. »Und ich bin dir auch dankbar dafür. Trotzdem war es ziemlich leichtsinnig. Dieses Ding hätte dich umbringen können.«
»Möglich«, antwortete Aton. »Aber ich glaube nicht, daß das seine Absicht war. Weißt du, wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das längst gekonnt.«
Sascha sagte nichts dazu, und selbst Aton wunderte sich einen Moment lang über seine eigenen Worte. Aber zugleich - als wäre es erst nötig gewesen, sie auszusprechen, um die darin enthaltene Wahrheit zu begreifen - spürte er auch, daß es genauso war. Sicher, die Sphinx hatte ihn angegriffen, und er hatte den Dolch des Mumienkriegers an der Kehle gespürt; und doch - es war nicht sein Tod, den diese Geschöpfe wollten.