»Dieser Hund«, sagte Sascha plötzlich. »Das war Anubis, nicht? Der Hund, von dem du erzählt hast.«
»Ja«, antwortete Aton. »Petach muß ihn geschickt haben.«
»Er hat uns geholfen«, gab Sascha zu bedenken. »Wäre er nicht aufgetaucht, hätte das Biest uns beide erwischt.«
Aton zuckte nur mit den Schultern. Auch er hatte schon über diese Frage nachgedacht, ohne zu irgendeiner Lösung zu kommen. »Vielleicht streiten sich ja Petach und die anderen gerade darum, wer mich angreifen darf«, sagte er.
Auch Sascha lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Du sprichst ein wichtiges Thema an«, sagte sie. »Vielleicht die entscheidende Frage überhaupt.«
»Und die wäre?«
»Was Petach und die anderen überhaupt von dir wollen«, antwortete Sascha. Aton wollte etwas sagen, doch Sascha hob rasch die Hand und führte den begonnenen Gedanken weiter. »Petach hat dir erzählt, was damals geschehen ist«, sagte sie. »Die Geschichte von Echnaton und Eje -«
»Eje?«
»Ich habe in ein paar Büchern gelesen und mich erkundigt«, erwiderte Sascha mit einem flüchtigen Lächeln. »Mit großer Wahrscheinlichkeit war es Echnatons väterlicher Freund und Berater Eje, der ihn damals umbringen ließ, um sich selbst auf den Thron Ägyptens zu setzen. Nehmen wir einmal an, daß es wirklich so war. Ich will sogar für einen Moment meinen gesunden Menschenverstand abschalten und so tun, als wäre alles genau so, wie Petach dir erzählt hat. Selbst wenn das alles stimmt, frage ich mich, welche Rolle du bei alledem spielst. Es muß etwas mit deinem Unfall seinerzeit zu tun haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Hast du damals irgend etwas getan oder mitgenommen?«
Auch Aton hatte schon angestrengt in dieser Richtung überlegt. Bei allem Unheimlichen, das ihm widerfahren war, glaubte er doch keine Sekunde, nur durch Zufall in diesen Kampf mythischer Gewalten hineingezogen worden zu sein.
Aber er hatte nichts mitgenommen, und wenn er irgend etwas getan hatte, so erinnerte er sich jedenfalls nicht mehr daran.
Er überlegte einige Sekunden, dann zuckte er hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich kann mich an nichts von damals erinnern. Ich war ja noch ein kleines Kind.«
»Und Petach und seine Freunde werden uns wohl kaum die Wahrheit sagen, wenn wir sie fragen«, fügte Sascha seufzend hinzu. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, dann lenkte sie den Wagen auf die mittlere Fahrspur und gab mehr Gas. Sie fuhr weit schneller, als es in der Stadt erlaubt war, aber das schien sie nicht zu stören.
»Wohin fahren wir eigentlich?« erkundigte sich Aton.
»An einen sicheren Ort«, antwortete Sascha. »An einen Ort, an dem uns Petach und diese Monster nichts tun können.«
»Das hast du schon einmal gesagt«, erinnerte sie Aton.
Sascha zuckte mit den Schultern. »Ich gebe zu, ich habe sie unterschätzt«, gestand sie. »Aber das wird nicht noch einmal passieren. Außerdem haben wir sie selbst auf unsere Spur gebracht.«
Diese Antwort beruhigte Aton nicht sonderlich. Er war ziemlich sicher, daß Petach über kurz oder lang seinen Aufenthaltsort auch herausgefunden hätte, hätte er nicht versucht, Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen.
Der Gedanke erinnerte ihn wieder an etwas, was er in all der Aufregung der letzten halben Stunde völlig vergessen hatte. Der beunruhigte Ton in der Stimme seines Vaters war nicht zu überhören gewesen, und viel mehr noch hatte er gespürt, daß auch bei ihm etwas nicht stimmte. Er mußte seine Eltern von dem unterrichten, was hier geschehen war, und vor allem: Er mußte sie warnen. Er sprach den Gedanken laut aus, und zu seiner Überraschung widersprach Sascha nicht, sondern nickte zustimmend.
»Wir müssen sogar noch mehr tun«, sagte sie. »Wie es aussieht, sind deine Eltern wahrscheinlich die einzigen, die uns helfen können. Sie waren damals dabei.«
»Aber sie wissen doch nichts«, sagte Aton.
Sascha machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie glauben, nichts zu wissen«, sagte sie. »Es ist erstaunlich, woran sich die Leute manchmal erinnern, wenn man nur hartnäckig genug nachfragt. Ich werde mich erkundigen, was auf der Baustelle deines Vaters los ist, und versuchen, irgendwie Kontakt mit ihm aufzunehmen. Keine Sorge«, fügte sie beruhigend hinzu, als Aton zusammenzuckte. »Ohne daß Petach es merkt. Gottlob verfüge ich über gewisse Möglichkeiten, von denen er nichts wissen kann. Aber zuerst einmal brauchen wir einen sicheren Unterschlupf für dich.«
Wieder fuhren sie eine ganze Zeitlang schweigend durch die Stadt, dann stellte Aton eine Frage, die ihn schon seit einer Weile beschäftigte. »Wieso tust du das eigentlich?« fragte er.
»Was?«
»Du hättest längst deine Vorgesetzten benachrichtigen müssen«, sagte Aton. »Eigentlich schon gestern. Ich meine, ich bin dir dankbar, daß du mir hilfst, aber du riskierst eine ganze Menge, nehme ich an.«
»Ich riskiere Kopf und Kragen, um genau zu sein«, antwortete Sascha ruhig. »Zumindest meinen Job. Aber kannst du dir vorstellen, was meine Vorgesetzten sagen, wenn ich mit dieser Geschichte zu ihnen komme? Trotzdem werde ich es spätestens morgen früh tun müssen.« Sie seufzte. »Sobald ich mir ein paar passende Ausreden habe einfallen lassen, heißt das.«
Sie mußten ihr Ziel jetzt fast erreicht haben, denn Sascha fuhr langsamer und bog schließlich in eine Seitenstraße ein. Die Häuser hier waren kleiner und einfacher als die an der Hauptstraße, und in den meisten brannte kein Licht mehr, obwohl es nicht sehr spät war. Sascha betätigte den Blinker und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. Sie stiegen aus.
Aton sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um. Die Gegend gefiel ihm nicht. Obwohl nur einen Straßenzug vom belebten Zentrum der Stadt entfernt, schienen sie sich in einer völlig anderen Welt zu befinden. Es war sehr dunkel. Es gab keine Straßenlaternen, und die meisten Fenster waren schwarz, als wären die Wohnungen dahinter verlassen. Er sah überhaupt keine Passanten, und mit Ausnahme ihres eigenen auch keinen einzigen Wagen, der am Straßenrand abgestellt war.
»Wo sind wir hier?« fragte er schaudernd.
Sascha deutete auf das Gebäude, vor dem sie ausgestiegen waren. Aton entdeckte erst jetzt die Leuchtbuchstaben über der Tür, die verkündeten, daß es sich um das Hotel ASTORIA handelte. Ein hochtrabender Name - aber auch das einzig elegante an diesem Gebäude, das wenig mehr als eine Ruine zu sein schien. Mit Ausnahme eines beleuchteten Fensters im Erdgeschoß war auch dieses Haus vollkommen dunkel. Zweifelnd blickte er Sascha an.
Die junge Frau lächelte aufmunternd und machte zugleich eine Geste, ihr zu folgen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Sie betraten das Hotel. Hinter der Tür, die sich mit einem Knarren in den Angeln bewegte, als wäre sie seit zehn Jahren nicht mehr geöffnet worden, erstreckte sich ein kleiner, staubiger Flur, an dessen linker Seite sich eine uralte Theke befand. Dahinter saß ein kleines, verhutzeltes Männchen in einer blauschwarzen Phantasieuniform, das bei ihrem Eintreten müde und ohne das geringste Interesse aufsah. Sascha bedeutete Aton, nichts zu sagen, und wechselte einige halblaute Worte mit dem Portier. Aton konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber der Mann händigte ihr einen Schlüssel aus, ohne auch nur aufzustehen, und vertiefte sich dann wieder in die Zeitung, in der er bei ihrem Eintreten geblättert hatte. Die ganze Szenerie hatte etwas Unwirkliches, fand Aton.
Sascha deutete mit einer Kopfbewegung auf die Treppe am hinteren Ende des Flures, und sie gingen sie rasch hinauf. Das Zimmer, dessen Schlüssel ihr der Portier gegeben hatte, lag im ersten Stockwerk, unmittelbar an der Treppe. Sascha schloß auf, tastete einen Moment lang im Dunkeln herum und fand schließlich den Lichtschalter, der mit einem deutlich hörbaren Klacken einrastete. Eine altmodische Stofflampe unter der Decke verbreitete gelbes Licht, und was Aton in dem blassen Schein sah, das verstärkte das seltsame Gefühl noch, das sich in ihm breitgemacht hatte. Das Zimmer war uralt. Die Einrichtung war halbwegs sauber, aber sehr spärlich und mußte schon altmodisch gewesen sein, bevor er geboren worden war.