Das Ergebnis war dasselbe. Auch hinter dieser Tür war nichts als Schwärze und Leere.
Aton öffnete alle Türen auf der Etage, ohne irgend etwas anderes zu finden als eben nichts, und er war auch sicher, daß das Ergebnis dasselbe gewesen wäre, hätte er auch die beiden oben liegenden Stockwerke untersucht. Er sparte sich jedoch die Mühe und ging langsam die Treppe ins Erdgeschoß hinunter.
Der Portier saß noch immer hinter der Theke und blätterte in seiner Zeitung, als wäre inzwischen gar keine Zeit vergangen, und er sah auch erst auf, als Aton bereits an ihm vorüberging. Dann aber erwachte er sehr schnell aus seiner Lethargie. Mit einer für einen Mann seines Alters und seiner Statur überraschend flinken Bewegung huschte er um die Theke herum und vertrat Aton den Weg.
»Wo willst du hin?« fragte er in wenig freundlichem Ton.
»Ich ... ich wollte nur ...« stammelte Aton, aber der Portier unterbrach ihn mit einer energischen Geste.
»Deine Freundin hat gesagt, du sollst das Haus nicht verlassen«, sagte er. »Ich glaube, es ist besser, du tust, was sie sagt.«
Der Tonfall, in dem er sprach, machte seine Worte zu einem Befehl, und obwohl er einen Kopf kleiner und schmächtiger als Aton war, erweckte er ganz den Eindruck, diesem Befehl notfalls auch mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. Aton zögerte. Aber allein die Vorstellung, die Treppe wieder hinauf und in dieses unheimliche Zimmer zurückkehren zu sollen, war fast mehr, als er ertrug. »Ich ... ich muß dringend weg«, sagte er. »Es ist etwas -«
Wenn es ein Zufall war, dann der größte, den Aton je erlebt hatte, aber in diesem Moment wurde die Eingangstür geöffnet, und Sascha kam zurück. Sie schien die Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen und richtig zu deuten, denn für einen Moment breitete sich Sorge auf ihrem Gesicht aus.
Dann lächelte sie. Aber Aton entging weder der beredte Blick noch die kleine, rasche Bewegung mit der Hand, die sie zu dem alten Mann hin machte. Er hörte, wie sich der Portier herumdrehte und an seinen Platz zurückschlurfte, und Sascha schloß die Tür hinter sich und kam dann auf ihn zu.
»Dir war ziemlich langweilig in deinem Zimmer, wie?« fragte sie. »Meine Schuld. Ich hätte dir ein Buch oder irgend etwas anderes mitbringen sollen, womit du dich ablenken kannst.«
»Wieso bist du schon zurück?« fragte Aton, ohne auf die Worte einzugehen. »Was ist mit Petach?«
»Er war natürlich nicht da«, antwortete Sascha. »Wir haben den ganzen Flughafen nach ihm abgesucht, ohne ihn zu finden. Es war wahrscheinlich auch ziemlich naiv von mir, im Ernst anzunehmen, daß er einfach dasitzt und auf uns wartet.«
Aton versuchte in Gedanken die Zeit abzuschätzen, die seit Saschas Aufbruch vergangen war. Er wußte nicht genau, wo in der Stadt sie waren, aber bis zum Flughafen hinaus und wieder zurück war es selbst mit einem schnellen Wagen sicherlich eine halbe Stunde. Es war schwer vorstellbar, daß die Polizistin - selbst mit einer ganzen Armee von Kollegen - in der kurzen verbliebenen Zeit den kompletten Flughafen abgesucht haben sollte.
Sascha ging an ihm vorbei und machte eine beiläufige Geste, ihr zu folgen, aber Aton rührte sich nicht von der Stelle. Sie blieb stehen und sah ihn stirnrunzelnd an.
»Was ist los?« fragte sie. Sie lächelte. »Ich weiß, daß es hier nicht sehr gemütlich ist, aber -«
»Was ist mit den anderen Zimmern?« unterbrach sie Aton.
»Den anderen Zimmern?« Wenn Sascha log, dann war sie eine ausgezeichnete Schauspielerin. Die Verwirrung auf ihrem Gesicht wirkte echt. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»In diesem Haus stimmt etwas nicht«, sagte Aton. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Er mußte sich sehr zusammennehmen, doch irgendwie brachte er das Kunststück fertig, seiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu verleihen. »Es gibt keine anderen Zimmer«, sagte er. »Nur dieses eine, in das du mich gebracht hast.«
»Keine anderen Zimmer?« Sascha schüttelte verwirrt den Kopf und tauschte einen fragenden Blick mit dem Portier.
Der alte Mann sah ebenso verständnislos drein wie auch sie, dann maß er Aton kopfschüttelnd und auf eine sehr beredte Art.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, sagte Sascha.
»Nein?« antwortete Aton. »Na, dann komm mit.«
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte er die Treppe hinauf und an ihrem Zimmer vorbei, erreichte die Tür, hinter der er zuerst auf diese unheimliche schwarze Leere gestoßen war, und riß sie auf.
Dahinter lag ein kleiner, schäbiger Raum, der ein Zwilling ihres eigenen Zimmers hätte sein können.
Aton starrte das Zimmer ungläubig und mit schierem Entsetzen an. Auf den zweiten Blick war es dem seinen doch nicht so ähnlich, wie er im allerersten Moment geglaubt hatte. Es gab Unterschiede. Was er in seinem eigenen Raum und auch draußen vermißt hatte, das sah er nun hier: Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Zeitung, die Bettdecke war nicht ganz glatt gezogen, und auf dem Spülbecken rechts neben der Tür, das nur einen Kaltwasserhahn hatte, stand ein benutztes Glas. In der Luft hing der Geruch von kaltem Zigarettenqualm, als wäre jemand vor kurzer Zeit erst hier gewesen und hätte geraucht.
»Also?« fragte Sascha, die nachgekommen war. »Was soll mit diesem Zimmer sein?«
Aton drehte sich wortlos um und trat an die nächste Tür. Er hatte es fast erwartet, trotzdem bereitete ihm der Anblick abermals einen Schock. Auch hinter dieser Tür lag ein kleines Hotelzimmer, und dies wies sogar ganz deutliche Spuren eines Bewohners auf. Aton probierte eine dritte und vierte Tür - mit dem gleichen Ergebnis - hinter der fünften schließlich entdeckte er tatsächlich einen Menschen. Ein verschlafenes Gesicht sah die beiden Störenfriede aus noch trüben Augen an, und Aton schloß rasch wieder die Tür, ehe der Mann richtig erwachen konnte.
»Also?« fragte Sascha. Sie hatte seinem Treiben bisher wortlos zugesehen, aber nun war ihre Geduld ganz offensichtlich am Ende. »Was soll das?«
Aton sah sie nur hilflos an. Er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Hatte er sich das alles tatsächlich nur eingebildet?
Sascha wiederholte ihre Frage, aber Aton antwortete auch jetzt nicht darauf, sondern drehte sich schweigend um und hatte es plötzlich sehr eilig, wieder in das Zimmer zurückzugehen, das ihm vor einer Viertelstunde noch solche Angst eingeflößt hatte.
Böse Mächte
Trotz der Aufregung hatte Aton gut und lange geschlafen, so daß er auch am nächsten Morgen erst wieder lang nach Sonnenaufgang erwachte. Sascha war bereits in einem Schnellimbiß gewesen und hatte ein Frühstück besorgt, und sowohl sie als auch Aton aßen mit großem Appetit.
Anschließend erklärte Sascha, ihn noch einmal für zwei oder allerhöchstens drei Stunden allein lassen zu müssen, ohne auch nur eine Andeutung zu machen, was sie in dieser Zeit vorhatte. Sie tröstete Aton mit dem Inhalt einer weißen Plastiktüte, die sie zusammen mit dem Frühstück gebracht hatte.
Diese enthielt ein kleines, batteriebetriebenes Kofferradio sowie einige Zeitschriften - eine ziemlich willkürliche Auswahl, wie Aton beim Durchblättern feststellte. Sascha hatte sich wohl gefragt, was einen Jungen seines Alters interessierte, und dann einfach alles mitgenommen, wovon sie dachte, daß er es gerne lesen würde, vom Musikmagazin bis zur Autozeitschrift. Im Grunde war nichts dabei, was Aton wirklich interessierte, aber alles war besser, als die nächsten Stunden damit zu verbringen, wie ein gefangener Tiger im Kreis herumzulaufen und darauf zu warten, daß die Zeit verging.
Er blätterte eine Weile in den Zeitschriften und schaltete schließlich das Radio ein. Da es fast die volle Stunde war, drehte er so lange an der Skala, bis er einen Lokalsender gefunden hatte, der Nachrichten brachte. Aton hörte aufmerksam zu. Aber worauf er wartete, kam nicht. Kein Wort von dem, was gestern abend in Saschas Wohnung geschehen war. Und das war wirklich sonderbar, denn es war ein Sender, von dem Aton wußte, daß er sich hauptsächlich mit dem beschäftigte, was hier in der Stadt vorging. Der Sprecher berichtete lang und breit über den geplanten Neubau eines Kindergartens, über irgendeine öde Haushaltsdebatte im Stadtrat, ja sogar über einen kleinen Autounfall in der vergangenen Nacht, bei dem niemand verletzt worden war, sondern nur ein geringer Sachschaden verzeichnet wurde. Ein Zwischenfall, bei dem eine komplette Wohnung verwüstet und ein ganzes Mietshaus in helle Aufregung versetzt wurde, wäre in diesem Sender normalerweise nicht verschwiegen, sondern eher zur Sensation gemacht worden. Da Sascha es ihm für heute nicht ausdrücklich verboten hatte, verließ er nach einer Weile das Zimmer und blieb draußen auf dem Gang einen Moment unschlüssig stehen. Einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, noch einmal eine der anderen Türen zu öffnen, um sich davon zu überzeugen, daß dahinter tatsächlich ganz normale Hotelzimmer waren und nicht gähnende Abgründe der Leere lagen. Aber er verwarf die Idee rasch wieder.