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Er hatte Dringenderes zu tun. Aton hatte nämlich nicht vor, weiter tatenlos herumzusitzen und darauf zu warten, daß ihn irgendeines der Wesen, die ihn verfolgten, auch tatsächlich erwischte. Und er hatte auch schon einen - wenn auch noch recht vagen - Plan, was sein weiteres Vorgehen betraf.

Er ging ins Erdgeschoß hinunter und stellte mit Verwunderung fest, daß der Portier hinter der Theke derselbe wie in der vergangenen Nacht war. Er saß immer noch da und blätterte in seiner Zeitung, und als er Schritte hörte, sah er nur flüchtig auf und konzentrierte sich dann wieder auf die buntbedruckten Seiten. Obwohl er die ganze Nacht dort gesessen haben mußte, wirkte er kein bißchen müde. Er versuchte auch nicht, Aton am Verlassen des Hotels zu hindern. Mit einem angedeuteten Nicken ging er an dem alten Mann vorbei und öffnete die Tür.

Es war sehr kalt draußen. Aton vergrub fröstelnd die Hände in den Hosentaschen und wandte sich nach links, der Hauptstraße zu. Etwas Sonderbares geschah: Aton konnte die breite, vierspurig ausgebaute Straße deutlich sehen. Autos fuhren vorüber, Passanten hasteten, in dicke Wintermäntel gehüllt, vorbei, eine Straßenbahn bahnte sich ratternd ihren Weg durch den Verkehr - aber die Straße hier war und blieb vollkommen leer. Es war nicht nur so, daß kein einziger Wagen vorbeikam oder am Straßenrand geparkt war, er sah auch keine anderen Passanten, und selbst hinter den Fenstern der Häuser rührte sich nichts. Es war, als hätte die Stadt, deren lärmendes, pulsierendes Herz so nahe lag, diese Häuserblöcke vollkommen vergessen.

Aton marschierte in scharfem Tempo auf die Hauptstraße zu, blieb aber kurz davor noch einmal stehen und sah zu dem Straßenschild hoch, das an einer Hauswand über ihm angebracht war. Es war so alt und verblaßt, daß er Mühe hatte, den Straßennamen zu entziffern. Aton prägte ihn sich sorgfältig ein, ehe er weiterging, und kaum war er auf die Hauptstraße hinausgetreten, da verkehrte sich der unheimliche Effekt, den er beim Verlassen des Hotels bemerkt hatte, ins genaue Gegenteil. Als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten, schien der Verkehrslärm schlagartig auf das Dreifache seiner Lautstärke anzusteigen, und es wurde viel heller.

Die Schatten waren hier nicht so tief, die Kälte nicht ganz so beißend. Aton hätte niemals geglaubt, daß er beim Anblick einer überfüllten, lärmenden, von Autoabgasen verpesteten Straße erleichtert aufatmen würde, aber genau das geschah.

Und es geschah noch etwas: Ganz plötzlich wußte er, wo er war. Er befand sich in einem Teil der Stadt, den er eigentlich sehr gut zu kennen glaubte. Sonderbar, daß er sich an die heruntergekommene Seitenstraße mit den verfallenen Häusern gar nicht erinnert hatte.

Aton wartete, bis er eine Lücke in dem dicht fließenden Verkehr erspähte, dann überquerte er schnell und im Zickzack zwischen den Wagen hindurchspringend die Straße. Da er relativ nahe dem Stadtzentrum war, mußte er nicht allzulange suchen, bis er fand, was als erstes auf seiner Liste stand: ein Reisebüro.

Aton betrat das kleine, weihnachtlich geschmückte Ladenlokal und steuerte zielsicher einen der beiden Schreibtische an.

Er war nicht der einzige Kunde. An dem Tisch neben der Tür saß eine ältere Frau in einem Pelzmantel, die mit hektischen Bewegungen in einem bunten Prospekt blätterte und dabei dann und wann eine Frage an den jungen Mann auf der anderen Seite des Tisches richtete, die dieser geduldig beantwortete. Hinter dem anderen, freien Schreibtisch saß eine junge Frau, die beim Klingeln der kleinen Türglocke aufsah und Aton mit einem freundlichen Lächeln entgegenblickte, das Aton erwiderte.

»Guten Tag«, sagte die junge Frau. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich interessiere mich für die schnellste Verbindung nach Ägypten«, antwortete Aton. »Mein Vater ist dort. Ich will ihn zu Weihnachten überraschen und besuchen.«

Die junge Frau begann, mit der linken Hand die Tastatur des Computers zu betätigen, mit der anderen deutete sie Aton, sich zu setzen. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen. »Du kannst das Flugzeug direkt nach Kairo nehmen oder von Genua aus die Fähre nach Alexandria. Wenn du allerdings zu Weihnachten dort sein willst, bleibt eigentlich nur das Flugzeug. Die Maschine geht täglich zweimal, eine am Vormittag, eine am späten Abend. Aber das ist teuer, ist dir das klar?«

Aton nickte, Geld war gottlob kein Problem. Er verfügte über ein eigenes Konto, und da es im Internat wenig Möglichkeiten gab, Geld auszugeben, hatte sich dort im Laufe der letzten Jahre eine hübsche Summe angesammelt. Die Bank war Punkt zwei auf seiner Liste.

»Das Flugzeug ist in Ordnung«, sagte er. »Kann ich heute abend noch einen Platz bekommen?«

»Ich schaue nach.« Sie begann wieder, Zahlen in den Computer einzutippen. »Dann brauche ich deinen Namen, Geburtsdatum, deinen Paß und die Nummer deines Einreisevisums.«

Aton wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Der Paß - daß er daran nicht gedacht hatte. Der Paß lag zu Hause im Safe - und in das Haus seiner Eltern konnte er nicht mehr zurück!

Ehe er der jungen Frau antworten konnte, klingelte die Türglocke erneut. Aton hätte es gar nicht zur Kenntnis genommen, hätte sein Gegenüber nicht aufgeblickt und für einen Moment erstaunt die Stirn gerunzelt. Automatisch drehte auch er sich im Sessel herum - und zog ebenfalls überrascht die Augenbrauen hoch. An der Tür war niemand. Sie war auch nicht aufgegangen, und trotzdem glaubte er für einen Moment einen eisigen Lufthauch zu spüren. Und da war noch etwas. Aton fröstelte. Es war, als ... als wäre etwas Unsichtbares, Düsteres in den Raum getreten. Ganz plötzlich schien der gerade noch so helle, freundliche Raum zu einem Teil jener unheimlichen Straße geworden zu sein, in der das Hotel lag. Die Schatten wirkten dunkler, das Licht gedämpft, alle Geräusche ein wenig flacher.

Aton schüttelte das Gefühl mit Mühe ab und wandte sich wieder um. »Der Paß«, wiederholte er.

Die junge Frau sah ihn durchdringend an. Sie lächelte noch immer, aber es war jetzt ein rein geschäftsmäßiges Lächeln, das nichts bedeutete, und Aton spürte die Ungeduld dahinter.

»So etwas braucht man, wenn man nach Ägypten reisen will«, sagte sie. Ihre Stimme klang nicht mehr so freundlich.

Aton setzte zu einer gestammelten Entschuldigung an, doch in diesem Moment erklang hinter ihm ein schepperndes Geräusch, unmittelbar gefolgt von einem spitzen, wütenden Schrei und dem Geräusch eines Stuhles, der heftig zurückgestoßen wurde. Aton drehte sich um und sah, daß dem Kollegen der jungen Frau ein Mißgeschick unterlaufen war. Offensichtlich hatte er sich vorgebeugt und dabei eine Kaffeetasse umgestoßen, die auf dem Tisch gestanden hatte. Der Inhalt hatte sich nicht nur über die Reiseprospekte und Papiere darauf, sondern auch über den Mantel der Kundin ergossen, die zwar schnell, aber nicht schnell genug aufgesprungen war.