»Kannst du nicht aufpassen?« fuhr er ihn an. »Jetzt sieh dir an, was du angerichtet hast!«
»Bitte entschuldigen Sie«, stammelte Aton. »Es tut mir leid.«
Die Worte schienen den Zorn seines Gegenübers nur noch zu schüren. »Es tut dir leid, so?!« fauchte er. »Na, dann paß mal auf, wie leid es dir gleich tut!«
Und damit holte er aus und schlug zu.
Aton duckte sich blitzschnell und entging so einer schallenden Ohrfeige, die ihn unweigerlich wieder zu Boden geschleudert hätte, und der Schwung seiner eigenen Bewegung riß den Mann nach vorn und ließ ihn einen Schritt an ihm vorbeistolpern. Aton nutzte die Chance, um rasch herumzufahren und wegzulaufen.
Verfolgt von den Verwünschungen und Flüchen des Mannes, rannte er bis zur nächsten Ecke, bog in eine Seitenstraße und blieb schwer atmend stehen. Hastig sah er sich um. Er wäre nicht sehr erstaunt gewesen, den wütenden Mann hinter sich drein stürmen zu sehen, aber die Straße blieb leer.
Was geschieht hier? fragte sich Aton entsetzt. Es war, als ob er Zorn und Unmut verbreitete, wo immer er auftauchte. Er spürte die körperlose Kälte und Finsternis noch immer, nicht mehr so deutlich wie im Reisebüro oder danach auf der Straße, aber sie war noch da.
Aton wartete noch eine ganze Weile, bis er sicher war, tatsächlich nicht verfolgt zu werden, dann ging er wieder zur Hauptstraße zurück und spähte vorsichtig um die Ecke. Der Mann, den er angerempelt hatte, war damit beschäftigt, seine fallengelassenen Pakete und Tüten aufzuheben, und trotz der großen Entfernung konnte Aton deutlich erkennen, daß er jetzt gar nicht mehr zornig dreinsah, sondern nur noch betroffen. Aton schaute ihm noch einige Sekunden lang zu, dann wandte er sich zur Straße und winkte das erste Taxi heran, das er sah. Der Wagen hielt. Der Fahrer beugte sich über den Beifahrersitz, öffnete die Tür und sah Aton mißtrauisch ins Gesicht.
»Wohin?« fragte er.
Aton nannte die Adresse, die er auf dem Straßenschild gelesen hatte, stieg ein und zog die Tür hinter sich zu.
Der Taxifahrer sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher?« fragte er. Er wartete Atons Antwort allerdings gar nicht ab, sondern zuckte mit den Schultern, schaltete sein Taxameter ein und fuhr los.
Er fuhr sehr schnell. Der Verkehr war dicht, aber der Mann drängelte sich rücksichtslos voran, sprang mit dem Wagen von Lücke zu Lücke und fuhr ein paarmal sogar ein Stück weit über den Bürgersteig, so daß die Passanten hastig aus dem Weg springen mußten. Einmal raste er bei Rot über eine Ampel und quittierte das zornige Hupen und Bremsenquietschen hinter ihnen mit einem höhnischen Grinsen in den Rückspiegel, und als Aton ihn bat, etwas langsamer zu fahren, blickte er ihn nur verärgert an.
Wie durch ein Wunder erreichten sie die Straße, in der das Hotel lag, ohne irgend jemanden zu überfahren oder einen Unfall zu verursachen. Als der Wagen mit kreischenden Bremsen vor dem Hotel zum Stehen kam, erlebte Aton einen Schock.
Das Hotel war nicht mehr da. Das heißt - natürlich war das Gebäude noch da, aber irgendwie schien es seit seinem Weggang vor zwei Stunden um die gleiche Anzahl von Jahrzehnten gealtert zu sein. Die Leuchtreklame über der Tür war verschwunden, an ihrer Stelle ragten nur noch ein paar abgerissene Drähte aus der Wand. Von der Fassade blätterte der Putz, und in keinem einzigen Fenster befand sich noch Glas.
Die Tür hing schräg in den Angeln und gewährte Aton einen Blick auf die staubigen, zerborstenen Fliesen der kleinen Eingangshalle.
»Nun, was ist?« fauchte der Taxifahrer gereizt. »Du wolltest hier hin, und wir sind hier.« Er tippte mit den Fingerknöcheln auf den Taxameter. »Du kannst doch bezahlen, oder? Du hast doch Geld - wenigstens rate ich dir das.«
»Ja«, antwortete Aton hastig und korrigierte sich ein wenig leiser: »Das heißt, ich habe es drinnen. Der Portier wird Sie bezahlen. Bitte warten Sie einen Moment.«
Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, um auszusteigen, aber der Taxifahrer ergriff ihn rasch am Arm und hielt ihn fest. »Dort drin?« fragte er. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Aber er ist da«, sagte Aton. »Wirklich, ich -«
»Nichts da!« unterbrach ihn der Taxifahrer. Er verstärkte seinen Griff so sehr, daß Aton die Tränen in die Augen schossen. »Davon will ich mich selbst überzeugen. Und ich rate dir, daß du die Wahrheit gesagt hast. Wenn nicht, wirst du mich kennenlernen!«
Er riß die Tür an seiner Seite auf und sprang aus dem Wagen.
Ohne die geringste Rücksicht auf Aton zu nehmen, den er hinter sich her zerrte, ging er auf das zu, was vor zwei Stunden noch ein Hotel gewesen war, stieß die Tür vollends auf und ließ ein ärgerliches Schnauben hören, als sein Blick in die vollkommen leere und ganz offensichtlich seit einem Jahrzehnt von keinem Menschen mehr betretene Eingangshalle fiel.
Das Innere des Gebäudes bot einen noch schäbigeren Anblick als sein Äußeres. Auf dem Boden lagen knöchelhoch Staub und Unrat. Die Theke, hinter der der alte Mann mit seiner Zeitung gesessen hatte, war verschwunden, die nach oben führende Treppe mit einem rot-weißen Band gesperrt, ein großes Schild daneben verkündete, daß bei Betreten des Hauses Lebensgefahr bestünde. Die Luft roch alt und nach Moder und Fäulnis.
»So!« sagte der Taxifahrer wütend. »Du willst mich also auf den Arm nehmen, Bürschchen, wie? Dich werde ich lehren, mich -«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Aton und der Taxifahrer drehten sich im selben Moment um, und hätte Aton nicht vor Schmerz ohnehin die Zähne zusammengebissen, dann hätte er in diesem Moment aufgestöhnt.
Hinter ihnen stand Petach. Trotz der Kälte war er nur mit einem dünnen Sommeranzug bekleidet, und trotz allem, was er gestern abend noch zu Aton gesagt hatte, lächelte er so freundlich und warm wie immer.
»Wer sind Sie denn?« fragte der Taxifahrer aggressiv.
Petach hob in einer fast beiläufigen Geste die Hand. »Der Junge gehört zu mir«, sagte er. »Sie können ihn loslassen. Ich werde Ihre Rechnung übernehmen.«
Der Taxifahrer maß zuerst Petach, dann Aton und dann noch einmal den Ägypter mit einem unsicheren Blick, ließ endlich Atons Arm los, wandte sich achselzuckend um und ging zu seinem Wagen zurück, ohne den ihm zustehenden Fahrpreis verlangt zu haben. Einen Augenblick später hatte er den Wagen angelassen und fuhr davon.
»Das war nicht sehr klug von dir, Aton«, sagte Petach. Seine Stimme klang wie immer. Ruhig, fast sanft, der Tadel darin nicht verletzend, und trotzdem hatte Aton plötzlich das Gefühl, schreien zu müssen.
»Warum tun Sie das, Petach?« fragte er. Seine Stimme schwankte. Sie klang, als kämpfte er mit äußerster Mühe gegen die Tränen, und Aton versuchte sich Selbst vergeblich einzureden, daß es nur der pochende Schmerz in seinem Arm war, der vom harten Griff des Taxifahrers herrührte.
Petach schwieg.
»Es geschieht wieder«, murmelte Aton. »Es ist ... dasselbe wie in Crailsfelden, nicht wahr? Es beginnt erneut.«
Petach antwortete auch darauf nicht, aber das war auch nicht nötig. Aton hatte es gespürt, seit er das Hotel verlassen hatte. Es war dasselbe wie in Crailsfelden. Die Dunkelheit, die sich über diesen Ort gelegt hatte, war jetzt auch hier in dieser Stadt.
»Warum?« fragte er. »Warum tun Sie das?«
Petach schüttelte den Kopf. »Das bin nicht ich, Aton«, sagte er. »Sie sind es.«
»Sie haben mich gefunden«, flüsterte Aton.
Petach nickte. »Sie werden dich überall finden, ganz egal, wo du dich versteckst«, sagte er. »Das war es, wovor ich dich warnen wollte.« Er lächelte traurig und deutete mit der linken Hand auf das Gebäude hinter Aton. »Auch diese Mauern hätten dich nicht geschützt. Ich hätte dich schon gestern abend gefunden, hätte ich es gewollt. Aber du mußtest es selbst erleben. Du kannst ihren Häschern entgehen. Du kannst vor den Kreaturen davonlaufen, die sie auf deine Spur setzen. Du kannst diese vielleicht sogar besiegen, denn du bist überraschend stark. Aber ihrem bösen Einfluß kannst du nicht entgehen. Und davor kann ich dich auch nicht schützen. Niemand kann das.«