»Dann wird es wieder geschehen?« fragte Aton leise. »Was in Crailsfelden passiert ist, wird sich ... wird sich wiederholen? Hier?«
»Vielleicht«, antwortete Petach. »Ich vermag es nicht vorherzusagen. Du kannst weiter davonlaufen, Aton, aber es wird dir folgen, wohin du auch gehst. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem man sich vor seinem Schicksal verstecken könnte. Es muß sich erfüllen, so oder so.«
»Sie meinen, daß ich Unglück verbreite«, sagte Aton bitter.
»Nicht du«, korrigierte ihn Petach. »Aber das, was dir folgt.«
Er schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er ganz leise und in einem Ton, der etwas Endgültiges hatte: »Ich weiß, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich werde ihn nicht wiederholen. Ich werde dich nicht zwingen, mir zu helfen oder mit mir zu kommen. Es liegt allein bei dir, was du tust.«
Niemals zuvor im Leben war Aton eine Entscheidung so schwergefallen wie diese. Er wollte nicht mit Petach gehen. Er hatte panische Angst vor dem, was ihn an jenem unbekannten Ort erwarten mochte, zu dem Petach ihn brachte, aber noch mehr Angst hatte er vor dem, was hier geschah. Er dachte an Crailsfelden und die Katastrophe, an Werner, der jetzt tot war, und an Sascha, die demselben Schicksal am vergangenen Abend nur um Haaresbreite entgangen war, und an die Schwärze, die ihm folgte, und schließlich flüsterte er: »Also gut. Gehen wir.«
Petachs Geschichte (3)
Sie reisten weder mit einem zweispännigen Wagen noch durch ein plötzlich aus dem Nichts aufgetauchtes Tor nach Ägypten, sondern auf einem Weg, der zwar auf seine Weise ebenso phantastisch, nichtsdestoweniger für Aton aber ganz normal war: mit der Linienmaschine, mit der vor zwei Tagen auch seine Eltern geflogen waren. Atons nicht vorhandenes Visum und der Paß, den er nicht bei sich hatte, schienen kein Problem zu sein. Petach ging einfach zum Schalter und kam wenige Augenblicke später mit zwei Tickets zurück, und weder das Abfertigungspersonal noch die Zollbeamten fragten nach irgendwelchen Papieren. Die Kontrolle, durch die sie schritten, begann schrill zu piepsen, und die Metalldetektoren des Sicherheitspersonals leuchteten wie ein Weihnachtsbaum auf, aber es kostete Petach nur einen Blick und eine flüchtige Handbewegung, und die drei Männer, die sich gerade noch mit grimmigen Gesichtern in ihre Richtung gewandt hatten, verloren plötzlich jegliches Interesse an ihnen.
Ohne auch nur angesprochen zu werden, betraten sie die Wartehalle und eine halbe Stunde später die überdachte Gangway, die zur Maschine hinausführte.
Sie flogen erster Klasse, was Aton allerdings gar nicht recht war. Sie waren nämlich die einzigen Erste-Klasse-Passagiere, so daß sie in dem kleinen, mit einem Vorhang abgetrennten Abteil vollkommen allein waren. Bisher hatte die Gegenwart anderer Menschen Petach davon abgehalten, weiter mit ihm zu reden, jetzt aber waren sie allein, und Aton dachte voller Unbehagen an den fast dreistündigen Flug, der vor ihnen lag.
Normalerweise hätte er den Start und die Flugreise genossen, denn obwohl es nicht das erste Mal war, daß er in einem Flugzeug saß, erfüllte ihn dies jedesmal mit einem Gefühl des Abenteuers. Aber sein Bedarf an Abenteuern war wahrscheinlich für die nächsten zehn Jahre im voraus gedeckt. Er dachte an das, was vor ihm liegen mochte und von dem er nur wußte, daß es mit Sicherheit gefährlich war, und das erfüllte ihn mit Angst.
Petach mußte dies wohl spüren, denn er drehte sich in dem breiten, samtgepolsterten Sitz zu ihm herum und lächelte.
»Du hast nichts zu befürchten«, sagte er. »Solange ich in deiner Nähe bin, wird dir nichts geschehen.«
Aber Atons Furcht galt nicht nur ihm selbst. »Und den anderen?« fragte er. »Ich meine, sind Sie sicher, daß wir auch unbeschadet ankommen? Oder wird irgend jemand die Stewardeß erwürgen, weil sie ihm nicht schnell genug den Kaffee bringt?«
Zu seinem Erstaunen lachte Petach. »Deine Art, die Dinge zu beschreiben, ist recht blumig.« Er wurde wieder ernst. »Niemandem wird etwas passieren«, versprach er. »Es lag nicht an dir. Was du erlebt hast, das war das Wirken der bösen Kräfte, die sich in deiner Umgebung konzentriert haben - weil sie auf der Suche nach dir waren. Sie werden es nicht wagen, mir nahe zu kommen. Wenigstens noch nicht«, fügte er etwas leiser und in einem sonderbar anderen Tonfall hinzu.
Aton hätte das gern geglaubt, aber es fiel ihm schwer. Trotz allem hatte Petach noch immer etwas von einem gütigen Mann, dem man das, was er sagte, erst einmal glaubte. Aber er hatte ihn einmal zu oft belogen, einmal zu oft Dinge getan, die im Gegensatz zu dem standen, was er sagte.
Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, weil in diesem Moment die Triebwerke des Flugzeuges lauter zu dröhnen begannen. Die Kabine zitterte, dann setzte sich die ganze Maschine, zuerst schwerfällig, dann aber immer schneller und schneller werdend, in Bewegung, bis sie mit der Geschwindigkeit eines Rennwagens über die Piste raste. Aton wandte sich dem Fenster zu und sah hinaus. Es war bereits dunkel, so daß er wenig mehr als vorbeirasende, verschwommene Lichter wahrnehmen konnte, aber trotzdem tat er so, als nähme der Start seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Petach mußte es merken, aber er war diplomatisch genug, für die nächsten fünf Minuten zu schweigen, bis die Lichter der Stadt unter ihnen zu einem Spiegelbild des Sternenhimmels zusammengeschrumpft waren und schließlich unter grauen Wolkenfetzen verschwanden. Ein heller Glockenton erklang.
Das Bitte-Anschnallen-Licht über ihren Köpfen erlosch, und eine Stewardeß kam und erkundigte sich freundlich nach ihren Wünschen.
Petach schickte sie mit einem Kopfschütteln fort und wartete, bis sie wieder allein waren. »Ich habe dir die Geschichte von Echnaton und seinem Mörder erzählt« begann er dann.
»Eje?« fragte Aton.
Petach lächelte anerkennend. »Es wird Zeit, daß ich dir auch den Rest erzähle«, sagte er. »Vor allem den Teil, der dich betrifft. Dann wirst du mich besser verstehen.«
»Oh«, sagte Aton in einem so höhnischen, verletzenden Ton, wie er nur konnte. »Schon? Ich meine, es geht ja nur um mein Leben. Nicht, daß das besonders wichtig wäre, aber ...«
Für die Dauer eines Atemzuges flammte Zorn in Petachs Augen auf. Er machte eine herrische Handbewegung, die Aton mitten im Wort verstummen ließ, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Du bist verbittert, ich weiß«, sagte er. »Und du hast Grund genug dazu, aber ich hoffe, daß du mich trotzdem verstehen wirst.«
»Verraten Sie mir eines«, sagte Aton. »Wir sitzen in einem Flugzeug nach Ägypten, Petach. Ich frage mich nur, warum - nachdem Sie zuerst alles in Ihrer Macht Stehende getan haben, damit ich ganz genau dort nicht hinkomme.«
»Das solltest du auch nicht, Aton«, antwortete Petach. »Glaube mir, ich hätte eine andere Lösung vorgezogen. Aber die Dinge haben sich geändert.«
»Das reicht mir nicht«, antwortete Aton. »Verdammt, Petach, ich habe ein Recht, zu erfahren, was mit mir geschieht. Und warum.«
»Das wirst du«, antwortete Petach. »Sobald die Zeit dafür gekommen ist.«
Aton wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus dem Fenster. Was hatte er erwartet? Etwa eine klare Antwort?
Petach wartete geduldig eine Weile darauf, daß er sich wieder zu ihm herumdrehen würde, doch als Aton dies nicht tat, fuhr er von sich aus fort zu erzählen.