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Es war der Lärm, der vom Schulhof heraufdrang, der ihn schließlich weckte. Aton setzte sich auf, blinzelte einen Moment benommen - und fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe, als sein Blick auf die grünen Leuchtziffern des Radioweckers fiel. Es war zwanzig nach acht. Der Unterricht hatte vor fünf Minuten begonnen, und sein allererster wirklich klarer Gedanke war der, daß sie in der ersten Stunde Kunst mit Frau Steller hatten, die nun wahrlich keinen Spaß verstand, was Unpünktlichkeit anging. Und nach dem, was gestern geschehen war, vermutlich noch weniger als sonst.

Aton war zwar von allen Beteiligten am besten davongekommen, aber wie es mit solchen dummen Geschichten nun einmal ist - ganz egal, ob schuldig oder nicht, es reichte aus, irgendwie darin verwickelt zu sein, damit etwas hängenblieb.

Aton war mit einem Satz aus dem Bett. Er brachte das Kunststück fertig, sich in weniger als einer Minute komplett anzuziehen, und riß im Hinausgehen seine Schulmappe an sich.

So schnell er konnte, rannte er die Treppe hinunter, durch die große Halle und die Stufen auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf, wobei er immer zwei, drei auf einmal nahm. Seine Klasse lag im ersten Stockwerk des weitläufigen Gebäudes, aber ganz am Ende. Aton legte die Strecke in einer persönlichen Rekordzeit zurück - was aber nichts daran änderte, daß der Unterricht schon seit mehr als zehn Minuten lief, als er endlich in den entsprechenden Korridor einbog und zum Endspurt ansetzte. In Gedanken legte er sich schon eine passende Entschuldigung zurecht, damit Frau Stellers Zorn sich nicht gar zu heftig über ihm entlud.

Um ein Haar hätte er sie über den Haufen gerannt.

Die Klassentür wurde in der Sekunde aufgestoßen, in der er die Hand nach der Klinke ausstreckte, und Aton konnte im allerletzten Moment zur Seite springen, als Frau Steller heraustrat. Auf ihrem Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck, als sie Aton vor sich sah. Sie schloß die Tür hinter sich und wies mit der anderen Hand in die Richtung, aus der er gekommen war. »Ich wollte dich gerade suchen.«

»Ich weiß«, stotterte Aton. »Es tut mir leid. Mein Wecker muß ... ich meine, ich habe nicht -«

»Schon gut«, unterbrach ihn Frau Steller. »Das erspart mir wenigstens einen Weg.«

In Anbetracht des Rufes, den Frau Steller im Sänger-Internat genoß, war diese Großmut nun wirklich ungewöhnlich und für Aton eher ein Grund zur Sorge als zur Erleichterung. Mit Unbehagen blickte er seine Lehrerin an, die weitersprach: »Der Direktor möchte dich sehen. Du sollst in sein Büro kommen.«

»Jetzt?« fragte Aton. »Ich meine, der Unterricht -«

»Jetzt gleich. Und ehe du fragst und noch mehr von meiner und der Zeit deiner Klassenkameraden verschwendest: Ich weiß nicht, was er von dir will. Aber vielleicht kannst du es dir denken.« Sie streckte die Hand aus. »Du kannst deine Schulsachen hierlassen. Und beeil dich bitte. Auch wenn es die letzten Tage vor den Weihnachtsferien sind, ist jede versäumte Unterrichtsstunde eine versäumte Chance.«

Aton verdrehte innerlich die Augen. Sprüche wie diese gehörten nun einmal zu Frau Steller. Niemand nahm sie wirklich noch ernst - was sie natürlich wußte und sich entsprechend darüber ärgerte. Aber er hatte im Moment anderes im Kopf, als sich über seine Klassenlehrerin lustig zu machen.

Rasch händigte er ihr die Tasche aus, drehte sich wieder um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

Am Ende des Korridors wandte er sich jedoch nicht nach links, sondern nach rechts, der weiter nach oben führenden Treppe zu. Das Sänger-Internat war in den Mauern eines ehemaligen Kapuzinerklosters untergebracht. Die Klassenräume und auch die Zimmer der Schüler waren modernisiert und mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet worden, was man bei einem Internat dieser Kategorie auch erwarten konnte, aber das zweite Stockwerk, in der die Lehrerzimmer und die Verwaltung lagen, befand sich beinahe im Urzustand.

Die große Halle war düster und kahl, obwohl man sich bemüht hatte, diesen Eindruck durch Bilder und Vorhänge aufzuhellen: bunte Farbkleckse, die wie Fremdkörper wirkten.

Und selbst das aufgeregte Lärmen und Rufen und Lachen der Schüler, das täglich durch das Institut hallte, vermochte die unsichtbaren Schatten nicht zu vertreiben, die in den Ecken und den Winkeln zu nisten schienen.

Aton ging schneller und machte ein paar Schritte nach rechts, um einem Mitschüler auszuweichen, der ihm entgegenkam - genauer gesagt, seinem Schatten, den er aus dem Augenwinkel bemerkte, während er mit gesenktem Kopf die letzten Stufen der Treppe hinaufging, noch immer, ohne den Blick zu heben.

Als er an der Gestalt vorbeiging, streifte ihn ein eisiger Hauch.

Aton sah unwillkürlich auf - und erstarrte mitten in der Bewegung.

Er war allein. Nicht nur die Treppe - die gesamte Halle war völlig menschenleer!

Aber er hatte den Schatten doch ganz deutlich - Mit einem so heftigen Ruck, daß er um ein Haar auf der Stufe ausgeglitten wäre, fuhr er herum. Der Schatten ... war da, aber er war es auch zugleich nicht mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er ihn noch zu sehen, wie ein verblassendes Bild auf einem Fernsehschirm, der in diesem Augenblick ausgeschaltet worden war. Und dann war er verschwunden, so spurlos, wie nur Schatten verschwinden können.

Aber das ist doch unmöglich! dachte Aton. Er ... hatte sich den Schatten doch nicht eingebildet! Und diese Kälte. Die feinen Härchen auf Atons Handrücken hatten sich gesträubt, und er spürte jetzt noch den eisigen Schauer, der über seinen Rücken gejagt war.

Er mußte an gestern denken - und plötzlich hatte er Angst.

Sein Puls begann zu rasen. Er wußte nicht, wovor, nicht weshalb, aber die Angst war so intensiv, daß sie ihm fast den Atem nahm. Es war, als spüre etwas in ihm eine Drohung, eine schreckliche Gefahr, die sich unsichtbar über seinem Kopf zusammenbraute ...

Schluß! dachte er. Das ist doch alles kompletter Unsinn! Der scharfe Ton, in dem er sich selbst zur Ordnung rief, wirkte.

Sein Herz hörte auf, wie toll gegen seine Rippen zu schlagen, und er begriff, wie albern er sich benahm - natürlich war es nichts weiter als sein eigener Schatten gewesen, den er gesehen hatte. Und auch an der Kälte war absolut nichts Unheimliches. Schließlich herrschte draußen Winter, in einer guten Woche war bereits Weihnachten, und irgendwo im Haus hatte jemand ein Fenster geöffnet und gleich wieder geschlossen, so daß für ein paar Sekunden Durchzug entstanden war.

So einfach war das.

Trotzdem zitterten seine Hände noch leicht, als er das Büro des Direktors erreichte und ohne anzuklopfen das Vorzimmer betrat. Das Klappern einer mechanischen Schreibmaschine brach abrupt ab, als die Sekretärin unwillig hinter ihrem Schreibtisch aufsah.

»Du bist es, Anton«, sagte sie dann, und ihr Gesicht hellte sich auf.

Es war kein Versprecher. Meistens stellte sich Aton als Anton vor oder nuschelte seinen Namen so, daß der Unterschied nicht mehr so auffiel, und die meisten, die ihn nicht sehr gut kannten, sprachen ihn eben mit diesem Namen an. Aton war es nur recht.

Die Sekretärin machte eine Bewegung, als wollte sie aufstehen, lehnte sich dann aber zurück. »Geh nur rein«, sagte sie. »Direktor Zombeck wartet schon auf dich.«

Aton bedankte sich mit einem Kopfnicken und öffnete die Tür zu Zombecks Zimmer. Er ersparte sich die Frage, was der Direktor von ihm wollte. Er konnte es sich ganz gut denken ...

Der Raum roch muffig und war düster und von Schatten und Kälte erfüllt wie immer. Die wenigen Male, die Aton hiergewesen war, war er ihm stets gleich vorgekommen: Wie eine Gruft. Selbst die kostbaren alten Büromöbel, mit denen Zombeck sein Zimmer ausgestattet hatte, vermochten an diesem Eindruck nicht viel zu ändern.